Rudij Bergmann: ANDY WARHOLS ARMER BRUDER
in: Thüringer Allgemeine, Weimar, 12. Dezember 1998
... Zum Beispiel: Saturation Paintings (Buchenwald), Fotos und Zeitungsausschnitte von Lurie formal streng auf Leinwand collagiert. Im Mittelpunkt ein Foto, das Buchenwald-Häftlinge am Stacheldraht, vermutlich auf ihre Befreiung wartend, zeigt Gesichter, in denen sich Tragik und Hoffnung, Lebenserwartung und Gebrochensein spiegeln. Umrahmt ist dieses Foto von solchen, die ein Pinup-Girl in eindeutigen Posen und Versprechungen zeigt. Auch das ist die Freiheit, die jene erwartet, die solange unter mörderischen Bedingungen auf vielfältiges Leben verzichten mussten. Die Schönen und die Nackten, die Vergasten und die Heiligenbildchen hat Boris Lurie auf den Schmerz — und lustvollen Nenner Leben gebracht. Bildwerke gegen das Vergessen, aber auch Kunststücke, die sich weder vereinnahmen lassen wollen noch Wegschauen legitimieren. Radikal wie in diesem Jahrhundert kaum einer zuvor hat Boris Lurie die Gleichzeitigkeit der Ereignisse künstlerisch manifestiert. Das Entsetzen gepaart mit dem Prallen, die Lust mit dem Grauen. Und den erlebten Schrecken zu bannen gesucht in der Manier von Concept-Art. Luries Lebens- und Kunstart, die ihre Wurzeln nicht zuletzt bei Goya und den Dadaisten hat, lässt sich unschwer eine Korrespondenz bis zum zeitweiligen Gleichklang zur politischen Fraktion von Fluxus herstellen. Und tatsächlich hat der französische Fluxist Jean-Jacques Lebel in New York mit Boris Lurie und der von ihm sowie Stanley Fisher und Sam Goodman bestimmten NO!art-Bewegung zusammengearbeitet. Ein Künstlerformation von 1959 bis 1964, der nichts heilig war. ... ►mehr
Rudij Bergmann: MIT DER WUT DER VERZWEIFLUNG
in: Frankfurter Rundschau vom 9. Januar 1999
Im Weimarer Kulturhauptstadtjahr 1999 ist die Ausstellung des 1924 in Leningrad geborenen, in Riga aufgewachsenen Boris Lurie ein künstlerisch-politischer Gegenschlag, der sich nicht um Ästhetische Feinsinnigkeiten schert, denn der Ort der Kunst-Handlung, die oberhalb Weimars gelegene Gedenkstätte des KZ Buchenwald, auch kaum zulassen würde. Die realen Schrecken des Ortes und die eigenen erlebten in Kunst gebannt, das ist das, was der KZ Häftling Lurie als Künstler in zwei weiss gekalkten bedrückend niedrigen Kellerräumen des einstigen Desinfektionsgebäudes ausbreitet. Und vieles von dem was er seit den fünfziger Jahren bis 1998 schuf, das Gedenkstätten-Direktor Volkhard Knigge aus den USA nach Weimar holte, trampelt nicht nur den Zartfühlenden im Kunstbetrieb auf den Nerven herum, es wird auch jenen zu schaffen machen, deren Schicksal hier Kunst-Gegenstand ist. Aber eben nicht in der gewohnt würdigen bis ritualisierten Gedenkweise, sondern im Spannungsfeld voyeuristischer Lust und blankem Entsetzen. Nicht selten sind des Künstlers gewagte Kombinationen von Leichen-Bergen und alle Männerphantasien bedienenden nackten Schönheiten als Tarnkappen obsessiver Frauenfeindlichkeit gewertet worden. liegt ebenso nahe wie es zu kurz greift. ... ►mehr
Matthias Reichelt: BORIS LURIE WERKE 1946 — 1998
in: Kunstforum, Band 145, Köln, Mai-Juni 1999
In vielen langen Artikeln wird das Kulturprogramm der diesjährigen europäischen Kulturhauptstadt aus jeder Perspektive beleuchtet, das Pro und Contra des Goethe-Haus-Duplikats abgewogen, dabei gerät vor lauter Weimar Buchenwald aus dem Blick. Zur selben Zeit kommt die unendliche Geschichte des Holocaust-Denkmals, mit dessen Hilfe sich die Berliner Republik selbstgerecht als geläutert feiern und klammheimlich auf die Seite der Opfer schlagen möchte, zu einem bizarren Höhepunkt. Obgleich der Vorschlag, die Mahnung „Du sollst nicht morden“ in althebräischen(!) Schriftzügen als zentrales Denkmal für die ermordeten Europäischen Juden in Berlin künstlerisch gestalten zu lassen eher eine Autorenschaft des Satiremagazins Titanic vermuten lässt, ist er doch ernst gemeint und stammt von Richard Schröder (SPD). Zeitgleich wird die aktive Beteiligung deutscher Soldaten am Krieg um den Kosovo in Jugoslawien von der rot/grünen Regierung als historisches Datum gefeiert. — Angesichts der hier kurz skizzierten Debatten und der politischen Atmospähre mag es nicht verwundern, dass die ehemaligen Konzentrationslager und heutigen Gedenkstätten mit ihrer von Mittelknappheit bedrohten mühsamen Wissensvermittlung und Erinnerungsarbeit in dieser Berliner Republik kaum noch eine Rolle spielen. — Die Gedenkstätte Buchenwald hat sich ... einen besonderen Beitrag für die europäische Kulturhauptstadt Weimar 1999 einfallen lassen. Im Kellergeschoss der ehemaligen Desinfektion, also unterhalb der ständigen Sammlung mit Werken ehemaliger Häftlinge und zeitgenössischer internationaler Künstler, wurde bis zum 10. Mai 1999 eine Ausstellung mit dem New Yorker Künstler Boris Lurie gezeigt.... ►mehr
Bericht von Klaus Fabricius: ZUR NO!art INS KAZETT, Dezember 1999
in: Boris Lurie, Geschriebigtes — Gedichtigtes, Stuttgart 2003
Zur NO!art ins KZ nach Buchenwald im Winter, das war ein Vorschlag, den ich bald entscheiden sollte. Ich war nie da, flog es mir durch den Kopf, nie im KZ. Fahr auch nicht alleine hin und sollte im Warmen schlafen. Und wie sich später in einer Nebenrede des NO!art-Künstlers Boris Lurie, der dort jetzt seine Arbeiten zeigte und der in den 40er Jahren dort eingeschlossen war, herausstellte: Ja, der sagte, er habe auch schon schlechter geschlafen als an eben diesem verschissenen Ort, nämlich später mal auf einer Fähre. War’s von Reykjavik nach ... ? — Also ich habe gut geschlafen. Aber das waren nur kurze Stunden. Nicht, dass der Sturm und der Regen vor meinem Zimmer mich gehindert hätten, nee, denn mein Zimmer war gut. Die anderen auch, jedenfalls die renovierten und die im Windschatten. — Ich lernte gleich die NO!art-Experten Dietmar und Martin Kirves aus Berlin kennen. Sie zeigten uns, mit ironischem Lächeln, wie alles zu gehen hatte für diese Nacht in der ehemaligen SS-Kaserne. Am Ankunftsabend kreisten dann abenteuerliche Geschichten im Rauch der gemeinsamen Runde. Dabei hörten wir in der Einsamkeit der KZ-Gedenkstätte unheimliche Geräusche. „Sei doch mal still, was war das, hörst du das nicht auch?“ ... Ein Schneesturm fegte draußen durchs KZ-Gelände am goetheschen Ettersberg. — Morgens dann gab’s auch was zum Frühstück, gleich nebenan in der anderen Baracke, der Kantine. Noch mit dem Charme der sozialistischen Gemütlichkeit, die ich immer mal wieder verteidigte, zwischen geliebter Styropordecke und dem Imitat des Holzes im Fußbodenlinoleum. Zum Frühstück gab’s: „Haben Sie ’nen Käsebrötchen?“ - „Nein, aber Wurst mit Brötchen.“ Dass die Wurst warm war, war die gute überraschung. — Eckhart Holzboog war in Stuttgart morgens um halbvier abgefahren, ohne Schlaf in der Nacht, über Frankfurt Flughafen, wo Boris Lurie und ►Clayton Patterson erst noch abgeholt werden mussten, wegen unsicherer Faktoren, denn Boris Lurie hatte seinen Reisepass nicht wieder gefunden in New York. Jetzt aber doch mehr als pünktlich, keiner wollt’s recht glauben, kamen sie an, hier auf den Parkplatz vor dem Fenster, vor unseren Augen. .. ►mehr
NO!art in BUCHENWALD
BORIS LURIE: GESCHRIEBIGTES / GEDICHTIGTES 1947 - 2001
Herausgegeben von:
Volkhard Knigge, Eckhart Holzboog und ►Dietmar Kirves
470 S. | 135 s/w Abb. | 21,5 x 26,5 cm | Eckhart Holzboog Verlag | Stuttgart 2003
ISBN 3-9807794-0-8