KEINE KOMPROMISSE! DIE KUNST DES BORIS LURIE | Heute eröffnet das Jüdische Museum Berlin die bislang größte posthume Retrospektive des NO!art-Künstlers Boris Lurie mit bislang nie gezeigten Werken. Mit der Ausstellung lädt das Museum ein, den kompromisslosen Künstler und sein hochaktuelles Werk zu entdecken. Als Ankläger von Rassismus, Sexismus und Konsumkultur schuf er Arbeiten, die gleichermaßen Entsetzen wie Faszination hervorrufen. Die umfassende Schau präsentiert in 13 Kapiteln und einem Medienraum das Werk Luries, der 2008 im Alter von 83 Jahren in New York starb. Auf 650 Quadratmetern werden mehr als 200 Collagen, Zeichnungen, Gemälde, Assemblagen und Skulpturen aus allen Perioden seines Schaffens gezeigt.
»Wie kaum ein anderer hat Boris Lurie die radikale künstlerische Auseinandersetzung mit dem Holocaust und dem 20. Jahrhundert gesucht«, sagt Cilly Kugelmann, Programmdirektorin des Jüdischen Museums Berlin. »Seine Kunst hat nichts von ihrer provokativen Kraft und ästhetischen Radikalität verloren. Das verstörende Moment, das sein Leben so unerbittlich geprägt hatte, spricht mit einer großen kreativen Fähigkeit und aggressiver Wut aus seinen Bildern und Texten.«
»Die Grundlagen meiner Kunst erwarb ich in KZs wie Buchenwald.«
Der 1924 in einer wohlhabenden Familie im damaligen Leningrad geborene Boris Lurie wuchs in Riga auf und überlebte gemeinsam mit seinem Vater das Rigaer Ghetto und die Konzentrationslager Stutthof und Buchenwald. Seine Mutter, Großmutter, jüngere Schwester und seine Jugendliebe wurden 1941 bei Massenerschießungen nahe Riga im Wald von Rumbula ermordet. 1946 emigrierte Lurie mit seinem Vater nach New York. Seine Erfahrung von Verfolgung und Lagerhaft verarbeitete er 1946 mit dem Zyklus »War Series«. Die Zeichnungen, Tuschearbeiten, Skizzen und Ölbilder waren nicht zur Veröffentlichung gedacht und sind erstmals 2013 in New York ausgestellt worden. Über seine spätere Kunst sagte er einmal selbst: »Ich hätte gern angenehme Bilder gemacht, aber es hat mich immer etwas daran gehindert.«
Die NO!art-Bewegung
In New York war Lurie konfrontiert mit einer Gesellschaft, die nicht von Kriegs- und Holocaust-Erfahrungen gezeichnet war. In der ersten US-Medienberichterstattung über die Massenvernichtung in Europa standen Fotos von Leichenbergen neben erotisch aufgeladener Werbung. In Reaktion auf diese kommerzialisierte Gesellschaft gründete er 1959 mit seinen Künstler-Freunden Stanley Fisher und Sam Goodman die NO!art. Sie protestierten gegen einen zunehmend banalen und kommerziell orientierten Kunstbetrieb und verstanden sich als Gegenbewegung zu populären Kunstströmungen wie dem Abstrakten Expressionismus und Andy Warhols Pop Art. Mit Ausstellungen wie »Vulgar Show«, »Involvement Show« und »NO!Show« forderten sie eine kritische Auseinandersetzung mit aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen anstelle von inhaltsleeren künstlerischen Moden. Die Gruppe verweigerte sich dem Kunstmarkt, Kunstkritik und Kunsthandel reagierten ebenfalls ablehnend. Lurie positionierte sich damit als künstlerischer und gesellschaftlicher Außenseiter. Nach dem Tod seines Vaters 1964 erbte Boris Lurie unter anderem ein Haus in der Nähe des Central Parks und stieg in den Aktienhandel ein. Als Literat und Lyriker veröffentlichte er den Roman »House of Anita« und den Gedichtband »Geschriebigtes / Gedichtigtes«. Zahlreiche seiner Gedichte und Zitate ergänzen die Kapitel der Ausstellung.
Kapitel der Ausstellung
Unter der Überschrift »Saturation Paintings«werden die verstörenden Collagen gezeigt, in denen Lurie historische Holocaustfotos mit Pin-up-Motiven aus amerikanischen Zeitschriften kontrastiert. In ihnen verbindet er den Ekel gegen eine Menschheit, die zu millionenfacher Vertreibung und Massenmord fähig war, mit pornografischen Bildern. Diese Abscheu brachte er auch in großformatigen Werken der abstrakten Serie »Dismembered Women«zum Ausdruck. Nach dem Hunger und Krieg in Europa sind die fetten und zerstückelten weiblichen Körper seine Reaktion auf die saturierte amerikanische Gesellschaft der 1950er und -60er Jahre. Luries obsessive Beschäftigung mit dem weiblichen Körper zieht sich durch sein gesamtes künstlerisches Schaffen. In den Serien »Altered Portraits«, »Adieu Amérique« und seinenSkulpturen rechnet er mit gesellschaftlichen Zuständen und der Indifferenz und Charakterlosigkeit moderner Politiker ab. Die großformatigen Werke im letzten Kapitel »Adieu Amérique« sind eine Abrechnung mit den USA, die er zeitlebens ablehnte und doch nicht verlassen mochte. Im Medienraum, der sein Atelier imitiert, werden fünf Dokumentarfilme über die Persönlichkeit und Arbeitsweise Boris Luries gezeigt.
Boris Lurie Art Foundation
Die Ausstellung ist in Kooperation mit der Boris Lurie Art Foundation New York entstanden. Die Boris Lurie Art Foundation widmet sich seit 2009 dem künstlerischen Vermächtnis Boris Luries. Sie hat zahlreiche Ausstellungen u.a. in den USA, Paris, Moskau und zuletzt im Kölner NS-Dokumentationszentrum ermöglicht.
JÜDISCHES MUSEUM ZEIGT KUNST VON BORIS LURIE | Berlin (dpa) - Das Jüdische Museum in Berlin widmet dem Künstler Boris Lurie eine große Retrospektive. Die Ausstellung «Keine Kompromisse! Die Kunst der Boris Lurie» zeigt rund 200 Gemälde, Skulpturen und Collagen des Holocaust-Überlebenden. Viele Werke stammen aus den 1960er und 1970er Jahren. Lurie sei in Deutschland sehr unbekannt und ein «außerordentlich interessanter Künstler», sagte Programmdirektorin Cilly Kugelmann am Donnerstag. Gezeigt werden rund 200 Gemälde, Skulpturen und Collagen von Boris Lurie.
Lurie (1924-2008) wurde als Sohn einer jüdischen Familie im ehemaligen Leningrad geboren und wuchs in Riga auf. Nachdem er mit seinem Vater das Ghetto und später etwa das Konzentrationslager Buchenwald überlebte, wanderte er nach New York aus. Die Berliner Ausstellung, die am Donnerstagabend eröffnet werden sollte, ist nach Angaben der Boris Lurie Art Foundation die größte ihrer Art.
Lurie malte verformte Frauenkörper, ritzte Davidsterne auf Leinwände oder kombinierte Aufnahmen aus Konzentrationslagern mit Pin-up-Mädchen. Als Ankläger von Rassismus, Sexismus und Konsumkultur hätten seine Arbeiten gleichermaßen Entsetzen wie Faszination hervorgerufen, heißt es in der Ankündigung. Lurie gilt auch als Mitbegründer der «NO!art»-Bewegung, die sich gegen die damals populäre Kunst von Pop Art und Abstraktem Expressionismus stellte.
Anette Schneider: BORIS LURIE IN BERLIN | Werkschau eines kompromisslosen Künstlers | Mit "NO!art", einer Art Gegenkunst, wollten Boris Lurie und seine Freunde seit Ende der 1950er Jahre die selbstzufriedene US-Gesellschaft aufrütteln. Lurie, der mehrere Konzentrationslager überlebt hatte, wollte mit seinen Werken abstoßen. Nun zeigt das Jüdische Museum 200 Collagen, Objekte, Zeichnungen und Ölbilder unter dem Titel "Keine Kompromisse!".
An der Wand hängt ein Stück gerahmtes Sackleinen. In der Mitte klebt ein Zeitungsfoto. Es zeigt Überlebende eines gerade befreiten Konzentrationslagers. Umkränzt wird das Foto von Bildern nackter Pin-Up-Girls.
"Kunst muss weh tun!"
Das sagten sich 1959 auch Boris Lurie und seine jüdischen Freunden Sam Godman und Stanley Fisher, als sie die Gruppe "NO!Art" gründeten. Alle drei waren sich einig, so Kurator Hellmuth Braun: "Kunst muss weh tun! Dass man bestürzt ist. Dass man vielleicht auch angewidert ist und abgestoßen!"
"NO!Art" platzte damit in das schöne Selbstbild eines Landes, dass seine sozialen Probleme und imperialistischen Interessen hinter der glitzernden Fassade der Konsumgesellschaft versteckte. Und, so die stellvertretende Direktorin Cilly Kugelmann:
"Bei Boris Lurie kommt noch hinzu, dass er eine Kunst macht, die sehr geprägt ist von seinen Erfahrungen in der Shoah, oder in der Massenvernichtung der europäischen Juden, und es unerträglich findet, in einer Gesellschaft wie der USA, in der die erste Berichterstattung über die Massenvernichtung in Fotomagazinen ist neben Werbung. Und das macht ihn alles so wütend!"
Lurie wollte die unangenehmen Sachen machen
Lurie wurde 1924 in Leningrad geboren. Er wuchs in Riga auf, wo er ein deutsches Gymnasium besuchte. 1941 begann der faschistische Albtraum: das Getto. Die Erschießung von Mutter, Schwester, Freundin. Das Zwangsarbeitslager. Das Konzentrationslager Stutthoff. Das Konzentrationslager Buchenwald. Dann: die Befreiung. 1946 die Emigration mit dem Vater nach New York. Und: Boris Lurie wurde Maler:
"Ich kann mich erinnern, dass ich damals ganz konkret darüber nachgedacht habe. Zum Beispiel liebe ich sehr den Impressionismus. Und ich konnte das auch ganz gut machen, als ich anfing. Aber da entstand immer das Problem im Sinn: Das darfst du nicht machen! Du musst die unangenehmen Sachen machen. Die harten Sachen machen, nicht wahr? Und die harten Sachen wieder, die brachten mir nicht viel persönliches Glück."
Die Ausstellung umfasst Arbeiten aus den 1940er bis 80er Jahren, außerdem einen Raum mit Fotografien und Videofilmen.
In Werkgruppen gegliedert sieht man frühe, kleine Zeichnungen von KZ-Überlebenden sowie einige albtraumhafte KZ-Szenen. Bereits Mitte der 50er begann Lurie mit Collagen, mit NO!art: Weil er auch vom Heute erzählen wollte, konfrontierte er Bilder ermordeter Juden mit Gewalt-, Porno- und Werbebildern aus aktuellen Magazinen. Oder er zerkratzte 1963 die Wahlplakate eines der Vorbereiter des Vietnamkrieges und übermalte sie mit triefendem Rot.
Cilly Kugelmann :"Das "NO!" ist ein "Nein!" zur konventionellen Gesellschaft, zur kapitalistischen Wirtschaftsform, zu einem gefälligen, bloß dekorativen Kunstmarkt!"
Luries Antrieb waren Wut, Hass und Ekel gegenüber den herrschenden Verhältnissen. Weil sich die bis heute kaum verändert haben, wirken viele seiner Arbeiten noch immer unmittelbar. Etwa die in den 60er Jahren entstandene Serie "Love-Stories", in der Lurie pornografische Bilder gefesselter und geknebelter Frauen auf Leinwand klebt. Frauen in Gesten der Erniedrigung und Demütigung, wie sie in Konzentrationslagern von Häftlingen verlangt wurden. In Vietnam. In Abu Ghraib. Damals wollte niemand die NO!Art sehen. Die Kunstszene feierte lieber abstrakte Malerei und Pop-Art.
Boris Lurie: "Pop-Art war eine Glorifizierung der amerikanischen Gesellschaft, der Konsumgesellschaft. Die werden vielleicht sagen, dass das eine ganz milde, quasi humoristische Kritik war. Aber faktisch war das (eine) vollkommene Bejahung der Konsumgesellschaft."
Lurie quälte sich mit seinem Außenseiter-Status
Für die NO!Art-Künstler galt weiterhin: Keine Kompromisse! Sie konnten es sich leisten: Lurie hatte geerbt, die drei besaßen ihre eigene Galerie. Doch, so Cilly Kugelmann:
"Die USA ist für ihn eine Terra Incognita. Ein fremdes Gebiet. Und Menschen, die das überlebt haben, was er überlebt hat, sind in der Welt nicht mehr heimisch. Und er ist der Außenseiter in der Kunst - und das ist eine tiefempfundene Qual, die sich auf sehr besondere Weise in seinen Arbeiten artikuliert."
Die Fremdheit bezog sich nicht nur auf die USA. Bereits Mitte der 50er Jahre hatte Lurie versucht, in Paris zu leben, war aber bald ernüchtert zurückgekehrt. Die Gründe dafür sieht man in dem wohl schmerzlichsten Raum der Ausstellung: da stehen bemalte, mit großem Judenstern versehene Koffer. Und an den Wänden hängen zahlreiche, bis zu 2 Meter 30 mal 3 Meter 30 große Bilder, deren grelle, collagenhafte Farbflächen Boris Lurie mit großen Buchstaben übermalte: Mit Hassparolen gegen Israel. Mit Morddrohungen gegen Juden. Wie Lurie sie in Frankreich gesehen und gehört hatte.
Auch daran hat sich bis heute nichts geändert.
http://www.deutschlandradiokultur.de/boris-lurie-in-berlin-werkschau-eines-kompromisslosen.2156.de.html?dram:article_id=346675
Focus | 25.02.2016
KEINE KOMPROMISSE! Kunst von Boris Lurie in Berlin | Beim Anblick einer seiner Collagen soll eine Frau schreiend weggelaufen sein. Zur Kunst von Boris Lurie, der den Holocaust überlebte und dem nun in Berlin eine Retrospektive gewidmet wird.
Die Kritiker sollen anfangs nicht viel gehalten haben von den Werken des Boris Lurie. Als er nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA auswanderte, hatte er das Konzentrationslager Buchenwald überlebt.
Dass er die Massenvernichtung an den Juden erfahren habe, sei in seine Kunst und seine Weltsicht eingeflossen, sagt Cilly Kugelmann vom Jüdischen Museum in Berlin. Das Museum zeigt nun rund 200 Werke des in Deutschland (eher) unbekannten Kunstrebellen.
Darunter sind Gemälde von gefesselten Frauen, verunstaltete Porträts, Zeichnungen des Kriegs, Koffer mit Hakenkreuzen und in Beton gegossene Davidsterne. Die wohl provokantesten Stücke in der Ausstellung „Keine Kompromisse! Die Kunst der Boris Lurie“: Collagen aus den 1960ern, auf denen Lurie Aufnahmen aus Konzentrationslagern mit Erotikbildern kombiniert. Wie die Menschen darauf reagierten?
Dazu gebe es eine Geschichte, die aber nicht verifiziert sei, sagt Anthony Williams von der Boris Lurie Art Foundation. Lurie habe eines seiner ersten Bilder an der Lower East Side in Manhattan gezeigt. „Und eine Frau kam rein, schaute, drehte sich um und rannte schreiend raus“, erzählt Williams. Er wisse nicht, ob die Geschichte stimme. Bei den Kritikern jedenfalls seien seine Arbeiten mäßig angekommen, aber die Menschen seien erstaunt gewesen.
Lurie (1924-2008) wurde im russischen Leningrad geboren und wuchs in Riga auf. Mehrere Mitglieder seiner jüdischen Familie wurden ermordet, er überlebte mit seinem Vater mehrere Lager der Nationalsozialisten. In New York widmete er sich später der Kunst. Fotos zeigen ihn mit Halbglatze und Schnauzbart. In seinem Atelier sollen jede Menge Zeitungsausschnitte und Pin-ups gehangen haben.
Eine Collage zeigt einen Leichenberg. Und dazu eine fast nackte Frau mit Strumpfhaltern. „Er hat diese beiden Welten als Anklage zusammengefasst, so würde ich das interpretieren“, sagt Programmdirektorin Kugelmann. Die ersten Fotoberichte über die Massenvernichtung und Kriegsverläufe seien in Magazinen erschienen, in denen es auch Werbung gegeben habe. Und Werbung arbeite eben auch mit Erotik. Sie glaube, das habe ihn zutiefst gekränkt und angeekelt, sagte Kugelmann.
Die Ausstellungsmacher bezeichnen Lurie als Ankläger von Rassismus, Sexismus und Konsumkultur. Lurie malte deformierte Frauenkörper (sein Kommentar: „Es war meine Reaktion auf New York und auf Amerika. Fette und zerstückelte Weiber“). Wenn man diese Zitate liest, bekommt man den Eindruck, dass Lurie wenig Zuneigung für die USA hatte. Zusammen mit anderen Künstlern gründete er die „NO!art“-Bewegung - als Reaktion auf eine kommerzialisierte Gesellschaft, wie es heißt.
Lurie habe sich mit seiner Kunst gegen den Konsum gewandt, sagt auch Williams. Den Kunstbetrieb bezeichnete Lurie laut einem Zitat in der Ausstellung mal als „Dollarbefriedigungssystem“. Dementsprechend habe er seine Kunst auch nicht verkauft, sagt Williams. Lurie habe stattdessen in Immobilien und Aktien investiert. „Als er starb, hatte er 100 Millionen Dollar.“ Ein Konsumkritiker also, der mit Spekulationen an der Börse reich wurde.
Heute verwaltet die nach ihm benannte Stiftung seinen Nachlass. Von den rund 3000 Werken hätten sie nur einzelne verkauft, sagt Williams. So hätten sie überhaupt erst einmal den Wert der Arbeiten einschätzen können. Mittlerweile geht Luries Kunst auf Reisen. Die Ausstellung ist nach Angaben des Museums die bislang posthum größte. Die Schau läuft bis Ende Juli. Ganz am Anfang steht ein Zitat des Künstlers. Es lautet: „Wenn Ihr Augen habt und denken könnt, werdet Ihr hier etwas Neues sehen.“ dpa
KEINE KOMPROMISSE! - Kunst von Boris Lurie in Berlin | Dass er die Massenvernichtung an den Juden erfahren habe, sei in seine Kunst und seine Weltsicht eingeflossen, sagt Cilly Kugelmann vom Jüdischen Museum in Berlin. Das Museum zeigt nun rund 200 Werke des in Deutschland (eher) unbekannten Kunstrebellen.
Darunter sind Gemälde von gefesselten Frauen, verunstaltete Porträts, Zeichnungen des Kriegs, Koffer mit Hakenkreuzen und in Beton gegossene Davidsterne. Die wohl provokantesten Stücke in derAusstellung «Keine Kompromisse! Die Kunst der Boris Lurie»: Collagen aus den 1960ern, auf denen Lurie Aufnahmen aus Konzentrationslagern mit Erotikbildern kombiniert. Wie die Menschen darauf reagierten?
Dazu gebe es eine Geschichte, die aber nicht verifiziert sei, sagt Anthony Williams von der Boris Lurie Art Foundation. Lurie habe eines seiner ersten Bilder an der Lower East Side in Manhattan gezeigt. «Und eine Frau kam rein, schaute, drehte sich um und rannte schreiend raus», erzählt Williams. Er wisse nicht, ob die Geschichte stimme. Bei den Kritikern jedenfalls seien seine Arbeiten mäßig angekommen, aber die Menschen seien erstaunt gewesen.
Lurie (1924-2008) wurde im russischen Leningrad geboren und wuchs in Riga auf. Mehrere Mitglieder seiner jüdischen Familie wurden ermordet, er überlebte mit seinem Vater mehrere Lager der Nationalsozialisten. In New York widmete er sich später der Kunst. Fotos zeigen ihn mit Halbglatze und Schnauzbart. In seinem Atelier sollen jede Menge Zeitungsausschnitte und Pin-ups gehangen haben.
Eine Collage zeigt einen Leichenberg. Und dazu eine fast nackte Frau mit Strumpfhaltern. «Er hat diese beiden Welten als Anklage zusammengefasst, so würde ich das interpretieren», sagt Programmdirektorin Kugelmann. Die ersten Fotoberichte über die Massenvernichtung und Kriegsverläufe seien in Magazinen erschienen, in denen es auch Werbung gegeben habe. Und Werbung arbeite eben auch mit Erotik. Sie glaube, das habe ihn zutiefst gekränkt und angeekelt, sagte Kugelmann.
Die Ausstellungsmacher bezeichnen Lurie als Ankläger von Rassismus, Sexismus und Konsumkultur. Lurie malte deformierte Frauenkörper (sein Kommentar: «Es war meine Reaktion auf New York und auf Amerika. Fette und zerstückelte Weiber»). Wenn man diese Zitate liest, bekommt man den Eindruck, dass Lurie wenig Zuneigung für die USA hatte. Zusammen mit anderen Künstlern gründete er die «NO!art»-Bewegung - als Reaktion auf eine kommerzialisierte Gesellschaft, wie es heißt.
Lurie habe sich mit seiner Kunst gegen den Konsum gewandt, sagt auch Williams. Den Kunstbetrieb bezeichnete Lurie laut einem Zitat in der Ausstellung mal als «Dollarbefriedigungssystem». Dementsprechend habe er seine Kunst auch nicht verkauft, sagt Williams. Lurie habe stattdessen in Immobilien und Aktien investiert. «Als er starb, hatte er 100 Millionen Dollar.» Ein Konsumkritiker also, der mit Spekulationen an der Börse reich wurde.
Heute verwaltet die nach ihm benannte Stiftung seinen Nachlass. Von den rund 3000 Werken hätten sie nur einzelne verkauft, sagt Williams. So hätten sie überhaupt erst einmal den Wert der Arbeiten einschätzen können. Mittlerweile geht Luries Kunst auf Reisen. Die Ausstellung ist nach Angaben des Museums die bislang posthum größte. Die Schau läuft bis Ende Juli. Ganz am Anfang steht ein Zitat des Künstlers. Es lautet: «Wenn Ihr Augen habt und denken könnt, werdet Ihr hier etwas Neues sehen.»
Julia Kilian: GEFESSELTE FRAUEN UND LEICHENBERGE | Vor einer Collage von Boris Lurie soll eine Frau schreiend weggelaufen sein. Berlin widmet dem KZ-Überlebenden eine Schau.
Die Kritiker sollen anfangs nicht viel gehalten haben von den Werken des Boris Lurie. Als er nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA auswanderte, hatte er das Konzentrationslager Buchenwald überlebt. Dass er die Massenvernichtung an den Juden erfahren habe, sei in seine Kunst und seine Weltsicht eingeflossen, sagt Cilly Kugelmann vom Jüdischen Museum in Berlin. Das Museum zeigt nun rund 200 Werke des in Deutschland (eher) unbekannten Kunstrebellen.
Darunter sind Gemälde von gefesselten Frauen, verunstaltete Porträts, Zeichnungen des Kriegs, Koffer mit Hakenkreuzen und in Beton gegossene Davidsterne. Die wohl provokantesten Stücke in der Ausstellung „Keine Kompromisse! Die Kunst der Boris Lurie“: Collagen aus den 1960ern, auf denen Lurie Aufnahmen aus Konzentrationslagern mit Erotikbildern kombiniert. Wie die Menschen darauf reagierten?
Dazu gebe es eine Geschichte, die aber nicht verifiziert sei, sagt Anthony Williams von der Boris Lurie Art Foundation. Lurie habe eines seiner ersten Bilder an der Lower East Side in Manhattan gezeigt. „Und eine Frau kam rein, schaute, drehte sich um und rannte schreiend raus“, erzählt Williams. Er wisse nicht, ob die Geschichte stimme. Bei den Kritikern jedenfalls seien seine Arbeiten mäßig angekommen, aber die Menschen seien erstaunt gewesen
Jede Menge Pin-ups im Atelier
Lurie (1924-2008) wurde im russischen Leningrad geboren und wuchs in Riga auf. Mehrere Mitglieder seiner jüdischen Familie wurden ermordet, er überlebte mit seinem Vater mehrere Lager der Nationalsozialisten. In New York widmete er sich später der Kunst. Fotos zeigen ihn mit Halbglatze und Schnauzbart. In seinem Atelier sollen jede Menge Zeitungsausschnitte und Pin-ups gehangen haben.
Eine Collage zeigt einen Leichenberg. Und dazu eine fast nackte Frau mit Strumpfhaltern. „Er hat diese beiden Welten als Anklage zusammengefasst, so würde ich das interpretieren“, sagt Programmdirektorin Kugelmann. Die ersten Fotoberichte über die Massenvernichtung und Kriegsverläufe seien in Magazinen erschienen, in denen es auch Werbung gegeben habe. Und Werbung arbeite eben auch mit Erotik. Sie glaube, das habe ihn zutiefst gekränkt und angeekelt, sagte Kugelmann.
Die Ausstellungsmacher bezeichnen Lurie als Ankläger von Rassismus, Sexismus und Konsumkultur. Lurie malte deformierte Frauenkörper (sein Kommentar: „Es war meine Reaktion auf New York und auf Amerika. Fette und zerstückelte Weiber“). Wenn man diese Zitate liest, bekommt man den Eindruck, dass Lurie wenig Zuneigung für die USA hatte. Zusammen mit anderen Künstlern gründete er die „NO!art“-Bewegung – als Reaktion auf eine kommerzialisierte Gesellschaft, wie es heißt.
Boris Lurie: „Wenn Ihr Augen habt und denken könnt, werdet Ihr hier etwas Neues sehen.“
Lurie habe sich mit seiner Kunst gegen den Konsum gewandt, sagt auch Williams. Den Kunstbetrieb bezeichnete Lurie laut einem Zitat in der Ausstellung mal als „Dollarbefriedigungssystem“. Dementsprechend habe er seine Kunst auch nicht verkauft, sagt Williams. Lurie habe stattdessen in Immobilien und Aktien investiert. „Als er starb, hatte er 100 Millionen Dollar.“ Ein Konsumkritiker also, der mit Spekulationen an der Börse reich wurde.
Heute verwaltet die nach ihm benannte Stiftung seinen Nachlass. Von den rund 3000 Werken hätten sie nur einzelne verkauft, sagt Williams. So hätten sie überhaupt erst einmal den Wert der Arbeiten einschätzen können. Mittlerweile geht Luries Kunst auf Reisen. Die Ausstellung ist nach Angaben des Museums die bislang posthum größte. Die Schau läuft bis Ende Juli. Ganz am Anfang steht ein Zitat des Künstlers. Es lautet: „Wenn Ihr Augen habt und denken könnt, werdet Ihr hier etwas Neues sehen.“ dpa
Dirk Krampitz: Luries fast vergessenes Werk kommt ins Jüdische Museum | Er malte, schrieb und modellierte wie ein Getriebener. Und verkaufte so gut wie kein Bild. Weil er es nicht wollte. Und doch starb er als reicher Mann.
Boris Lurie (1924–2008) war ein Kunst-Unikat. Er wurde in Leningrad als jüngstes von drei Kindern in einer jüdischen Familie geboren. In Riga besuchte er das deutschsprachige Gymnasium. Von 1941 bis 1945 dauerte sein Leidensweg durch vier Konzentrationslager, darunter Stutthof und Buchenwald. Die weibliche Linie der Familie wurde bei einer Massenerschießung ermordet, Lurie und sein Vater Ilja mussten Zwangsarbeit leisten und überlebten. „Ich lebe deshalb, weil es vorläufig nichts Besseres gibt“, sagte er 1998 ziemlich lakonisch.
Boris Lurie rettete Familien-Fotos aus den KZs
Nach dem Krieg dann die Emigration nach New York, zusammen mit seinem Vater und einer Mappe von Familienfotos, die er durch alle Lager hindurch gerettet hatte. Lurie wurde Künstler und hielt seine Erlebnisse in den Lagern in Skizzen und Ölbildern fest. „Die Grundlagen meiner Kunst erwarb ich in KZs wie Buchenwald“, resümierte er einmal.
Sein Werk ist heute fast vergessen. Doch das Jüdische Museum erinnert nun an ihn: 205 Werke, darunter 12 Skulpturen sind zu sehen. Fast alle stammen aus der Boris Lurie Art Foundation. „Er investierte früh in Immobilien und Aktien“, erklärt Stifungs-Vize Anthony Williams. Und so hinterließ der Künstler ohne Verkäufe 100 Millionen Dollar. Der finanzielle Grundstock für die Stiftung. „Wir erhalten das Werk, wir haben nur einzelne Stücke verkauft, etwa an den Künstler Paul McCarthy, um Schätzwerte für die Versicherung zu haben“, erklärt Williams.
Boris Lurie sagte „No!“ zum Kunstmarkt
Trotz seines Reichtums fühlte sich Lurie als Holocaust-Überlebender immer fremd in der von Konsum bestimmten US-Nachkriegswelt. Als Folge gründete er 1959 die NO!art-Bewegung, zusammen mit den Künstlern Sam Goodman und Stanley Fisher. Denn er fand: „Das ganze Kunstsystem ist nur ein Dollarbefriedigungssystem.“ Das Leben als Künstler sollte seiner Meinung nach ein „wirkliches Dasein, ohne falsche Duchampesken, ohne Kunstmarkt und ohne Professoren und Spekulanten“ sein.
Und so nahm er keine Rücksicht auf Verkäuflichkeit: Lurie verband in großformatigen Collagen Pin-up-Fotos mit Bildern von Hakenkreuzen oder Leichenbergen aus den Konzentrationslagern – er fügte radikal zusammen, was er in den Zeitungen der Zeit nebeneinander fand. Er goss Davidsterne in Beton, ritzte und brannte sie in Leinwände. Er stellte nachmodellierte Kothaufen aus und zeigte der Kunstszene damit, was er von ihr hielt.
„Ich hätte gerne angenehme Bilder gemacht, aber es hat mich immer etwas daran gehindert“, sagte er einmal über seine Kunst. Das was ihn daran gehindert hat, war sein Leben.
michelleveen: NO!art | Boris Lurie im Jüdischen Museum Berlin | Das Jüdische Museum Berlin widmet dem NO!art-Künstler Boris Lurie und seiner radikalen künstlerischen Auseinandersetzung mit dem 20. Jahrhundert eine große Retrospektive (26.2. – 31.7.2016). Lurie forderte von der Kunst und dem Kunsthandel politische Relevanz ein. Mit seinen viel diskutierten und umstrittenen Arbeiten klagt er eine Gesellschaft an, die der Auseinandersetzung mit Menschheitsverbrechen aus dem Weg zu gehen schien, indem sie ihre Zeugnisse zwischen Werbung und Alltagsbanalitäten verpackte. Mit diesem Anspruch sind Luries Werke heute immer noch aktuell. Luries Collagen konfrontieren den Betrachter mit der fragwürdigen Rezeption der Schoa in der Nachkriegszeit und provozieren »Entsetzen und Faszination« (Volkhard Knigge). Denn Lurie verbindet den Ekel gegen eine Menschheit, die zu millionenfacher Vertreibung und Massenmord fähig war, mit dem Abscheu vor einem selbstgefälligen Kunstbetrieb, der mehr am finanziellen Gewinn als an der künstlerischen Aussage interessiert ist.
Boris Luries Leben
Boris Lurie, der 1924 als Sohn einer jüdischen Familie in Leningrad geboren wurde und in Riga aufwuchs, überlebte gemeinsam mit seinem Vater mehrere Ghettos und Konzentrationslager, unter anderem Stutthof und Buchenwald. Seine Mutter, Großmutter, jüngere Schwester und seine Jugendliebe wurden 1941 bei einer Massenerschießung im Wald von Rumbula ermordet. Diese Erfahrungen haben Boris Luries Leben nachhaltig geprägt.
1945 erlebte er die Befreiung der Konzentrationslager in einem Außenlager von Buchenwald in Magdeburg-Stattfeld. 1946 wanderte er mit seinem Vater nach New York aus. Zunächst hielt er seine Erfahrungen und Erinnerungen an die Lagerzeit in Zeichnungen und Aquarellen fest. Gegen Ende der 1950er Jahre änderte er seine Formensprache jedoch radikal und erstellte ab diesem Zeitpunkt Collagen mit Fotos aus den befreiten Konzentrationslagern. Zeitgleich gründete er 1959 gemeinsam mit befreundeten Künstlern (Sam Goodman und Stanley Fisher) die NO!art-Bewegung, die sich dem Abstrakten Expressionismus und der Pop-Art, vor allem aber der Ökonomisierung der Kunst entgegenstellte und sich politischen Themen wie etwa Rassismus, Sexismus und Konsumkultur widmete. Die Bewegung vereinte dabei diverse Kunstrichtungen und zeichnete sich vor allem durch eine gemeinsame politische Haltung aus, die Lurie maßgeblich mitgeprägt hat. Gemeinsam organisierten sie in den 1960er-Jahren Ausstellungen im New Yorker East End, wo Boris Lurie die Räume der geschlossenen March Gallery übernommen hatte. Boris Lurie starb am 7. Januar 2008 in New York.
Die begleitende Publikation
Bis heute ist die NO!art-Bewegung in der Kunstgeschichte kaum rezipiert worden. Ebenso fehlen retrospektive Museumsschauen fast gänzlich. Zur großen Retrospektive von Boris Lurie in Deutschland erscheint nun eine umfangreiche Publikation in zwei Sprachausgaben (deutsch und englisch). Auf 111 Seiten-Bildteil zeigt das Buch eine Übersicht der Werke des Künstlers. Im zweiten Teil folgen sechs Essays, Luries Biografie und eine Liste seiner Ausstellungen.
Ulrich Gutmair: DER ERSTE PUNK ALS MALER | Daniel Kahn und seine Kollegin Marina Frenk spielten am Donnerstag vor dem gefüllten Glashof des Jüdischen Museums als Erstes einen Parasong, wie der Anarchist Tuli Kupferberg seine Parodien alter jüdischer Lieder nannte. Auf Jiddisch, Russisch und Englisch und mit kleinen aktuell bedingten Änderungen. Es ist richtig, zur Eröffnung einer Ausstellung der Werke Boris Luries einen Punk mit historischem Bewusstsein wie Daniel Kahn spielen zu lassen, und Kahn hat recht, wenn er sagt, dass der Maler Boris Lurie selbst ein Punk avant la lettre war.
Lurie war ein Zeitgenosse der Pop-Artists der Sechziger, seine Arbeiten waren aber schwer konsumierbar, sie blieben selbst der progressiven New Yorker Kulturszene im Hals stecken. Lurie hatte den Mord an den europäischen Juden überlebt, dabei fast seine gesamte Familie verloren. Mit seinem Vater wanderte er nach New York aus. Bekannt wurde er dort durch seine Collagen, in denen er oft Pin-ups verwendete, die ihn auch in seinem Atelier umgaben. Auf manchen seiner Collagen stellte er die Fotos nackter Frauen, die für ihn die Verfügbarkeit und Wertlosigkeit des Menschen in der Moderne symbolisierten, Fotografien von Leichenbergen von den europäischen Killing Fields und Vernichtungslagern gegenüber.
Die Retrospektive im Jüdischen Museum ist beeindruckend, manche der Bilder wurden nie öffentlich gezeigt. Die Originale der Werke, die man aus Katalogen kennt, sind viel feiner und zugleich kraftvoller, als man sie sich vorgestellt hat. Es sind großformatige Gemälde zu sehen, die so manche zeitgenössische Malerei ästhetisch alt aussehen lassen, deren Sujets aber beim linksliberalen Kunstestablishment politisch anecken mussten. 1964 begnügte sich Lurie, der eine Liebe zu Israel entwickelte, noch damit, die Zeile „A Jew Is Dead" auf einer Collage aus Papier und Klebeband erscheinen zu lassen. 1970 wurde er auf einem knallbunten Gemälde voller Slogans deutlicher: „Israel Impérialiste" ist darauf zu lesen, kleiner darunter „Judenrein".
Frankfurter Neue Presse | 26.02.2016
BORIS LURIE IM JÜDISCHEN MUSEUM: Das Jüdische Museum in Berlin widmet dem Künstler Boris Lurie bis zum 31. Juli eine große Retrospektive. Die Ausstellung „Keine Kompromisse! Die Kunst der Boris Lurie“ zeigt rund 200 Gemälde, Skulpturen und Collagen des Holocaust-Überlebenden. Viele Werke stammen aus den 60er und 70er Jahren. Lurie (1924–2008) wurde als Sohn einer jüdischen Familie im ehemaligen Leningrad geboren und wuchs in Riga auf. Er überlebte das KZ Buchenwald, später wanderte er nach New York aus. Lurie malte verformte Frauenkörper, ritzte Davidsterne auf Leinwände oder kombinierte Aufnahmen aus Konzentrationslagern mit Pin-up-Mädchen. Er klagte Rassismus, Sexismus und die Konsumkultur an.
Nadine Emmerich: BORIS LURIE AUSSTELLUNG "KEINE KOMPROMISSE!" Jüdisches Museum Berlin zeigt verstörende Collagen des politischen NO!art-Künstlers | Als der Dokumentarfilmer Rudij Bergmann 1996 das New Yorker Atelier des jüdischen Künstlers Boris Lurie betrat, wurde ihm sofort klar »dass Lurie das KZ mental niemals ganz verlassen hatte«.
Lurie (1924–2008) verarbeitete seine Lagererfahrungen jedoch extrem ungewöhnlich: Sein Atelier etwa war tapeziert mit Zeitungsausrissen halbnackter Frauen. Und es sind vor allem diese Pin-Ups, die an seiner Kunst verstören. Lurie nutzte sie für Collagen, in denen er nackte Hintern in die Mitte eines Leichenberges oder um ein Gruppenbild von ausgemergelten KZ-Häftlingen klebte. Vom 26. Februar bis 31. Juli ist seine radikale Auseinandersetzung mit dem Holocaust im Jüdischen Museum Berlin zu sehen.
Ausstellung Unter dem Titel »Keine Kompromisse!« werden rund 200 Gemälde, Collagen und Skulpturen der Boris Lurie Art Foundation New York ausgestellt. Lurie habe »ein vages Konzept einer Jewish Art entwickelt«, sagte Museumsprogrammdirektorin Cilly Kugelmann am Donnerstag. Die Erfahrung der europäischen Juden sei in seine Kunst und Weltsicht eingeflossen, ohne dass Luries Arbeiten als »Holocaustkunst« zu definieren seien.
Lurie wurde als Sohn einer jüdischen Familie im damaligen Leningrad geboren, wuchs in Riga auf und überlebte gemeinsam mit seinem Vater die Konzentrationslager Stutthof und Buchenwald. Seine Mutter, Großmutter, Schwester und Jugendliebe wurden 1941 ermordet.
Das prägte Lurie, der sich obsessiv mit dem weiblichen Körper befasste - und etwa die nun in Berlin hängende Bilderserie »Dismembered Women« schuf, über die er schrieb: »Fette und zerstückelte Weiber. All das nach dem Hunger und Krieg in Europa«. In Armut und im Kerker habe es immer noch Würde gegeben – nicht aber im US-»Konsumentenglück«.
New York Die Schoa war das große Thema des Künstlers, der 1946 nach New York auswanderte. Dort entstanden auch die »War Series«, Hunderte Skizzen und Zeichnungen, mit denen sich Lurie an seinen Erfahrungen in Arbeits- und Konzentrationslagern abarbeitete. Rein therapeutisch – der Autodidakt betrachtete die Skizzen nicht als Kunst, erst 2013 wurden sie erstmals ausgestellt. Öffentlich thematisierte er seine Erlebnisse in den »Saturation Paintings«, den Collagen aus historischem Bildmaterial und Pin-Ups, mit denen er kritisierte, dass die Berichterstattung über die NS-Verbrechen in den USA zwischen Werbung und Klatsch stehe. Statt nur Chronist zu sein, schilderte Lurie den Zusammenprall verschiedener Lebenswelten.
1959 gründete Lurie die NO!art-Bewegung, die sich politischen Themen wie Rassismus, Sexismus und Konsum widmete und sich gegen Andy Warhols Pop Art positionierte. Diese verurteilte er als gedankenlos und den Kommerz hofierend. Den New Yorker Kunstbetrieb verachtete Lurie – er war für ihn mehr an Gewinn als an Aussage interessiert. Seine Antwort war »NO« – das Wort taucht in vielen Werken auf.
NO!Art Die Ablehnung war beidseitig, auch die Kritiker hielten damals nicht viel von Lurie, der NO!art mit ihren reißerischen Hakenkreuz-Motiven sowie Ausstellungen mit Titeln wie »Vulgar Show« und »Doom Show«. Das Publikum schwankte derweil zwischen Entsetzen und Faszination. Heute bemüht sich die 2010 gegründete Boris Lurie Art Foundation, den künstlerischen und gesellschaftlichen Außenseiter bekannter zu machen. Nach Ausstellungen etwa in Russland, Frankreich und Italien sind für 2017 Schauen in Israel und einigen asiatischen Ländern geplant, wie der Co-Direktor der Stiftung, Anthony Williams, am Donnerstag sagte.
Entgegen seiner antikommerziellen Positionen hatte Lurie übrigens erfolgreich an der Börse spekuliert. Als er 2008 starb hinterließ er laut Williams rund 100 Millionen US-Dollar, aber keine Erben. Sein Vermögen sowie rund 3000 Bilder, von denen Lurie nie eins verkauft hatte und die zum Teil stark restaurierungsbedürftig sind, gingen an die Stiftung. »Wenn meine Kunst nicht gezeigt wird, ist es als hätte ich gar nicht gelebt«, sagte Lurie damals.
Boris Lurie: Jüdisches Museum zeigt rund 200 Werke des Künstlers | Das Jüdische Museum in Berlin widmet dem Künstler Boris Lurie eine große Retrospektive. Die Ausstellung "Keine Kompromisse! Die Kunst der Boris Lurie" zeigt rund 200 Gemälde, Skulpturen und Collagen des Holocaust-Überlebenden. Viele Werke stammen aus den 1960er und 1970er Jahren. Lurie sei in Deutschland sehr unbekannt und ein "außerordentlich interessanter Künstler", sagte Programmdirektorin Cilly Kugelmann am Donnerstag.
Lurie (1924-2008) wurde als Sohn einer jüdischen Familie im ehemaligen Leningrad geboren und wuchs in Riga auf. Nachdem er mit seinem Vater das Ghetto und später etwa das Konzentrationslager Buchenwald überlebte, wanderte er nach New York aus. Die Berliner Ausstellung, die am Donnerstagabend eröffnet werden sollte, ist nach Angaben der Boris Lurie Art Foundation die größte ihrer Art.
Lurie malte verformte Frauenkörper, ritzte Davidsterne auf Leinwände oder kombinierte Aufnahmen aus Konzentrationslagern mit Pin-up-Mädchen. Als Ankläger von Rassismus, Sexismus und Konsumkultur hätten seine Arbeiten gleichermaßen Entsetzen wie Faszination hervorgerufen, heißt es in der Ankündigung. Lurie gilt auch als Mitbegründer der "NO!art"-Bewegung, die sich gegen die damals populäre Kunst von Pop Art und Abstraktem Expressionismus stellte. dpa
Judith Kessler: Keine Kompromisse! Die Kunst des Boris Lurie | Retrospektive im Jüdischen Museum | Die Werkschau zeigt in 15 Kapiteln das ebenso obsessive wie polarisierende Schaffen des NO!art-Künstlers. Der Holocaustüberlebende war Maler, Schriftsteller, Feminist und nachpolitischer Aktivist, protestierte gegen Rassismus, Sexismus und Konsumkultur.
Porträt über den No!artisten, kurz vor seinem Tod 2008 geschrieben "Ich bin hier sitzen geblieben wegen der Kunst", sagt Boris Lurie, 1924 in Leningrad geboren und in Riga aufgewachsen, bis die Deutschen seine Jugend beendeten. Seit über 60 Jahren, länger als an jedem anderen Ort, lebt Lurie in New York. Aber noch immer ist er "Borja", Baseballmütze, der Sonnenbrille und den Einkaufstüten, die er hält wie John Wayne seine Colts, informiert. Sieht er aus wie jeder andere Opi auf Manhattans oder Tel Avivs Straßen, nicht wie einer, der die amerikanische Öffentlichkeit Jahrzehnte mit drastischen NO!art-Aktionen gegen Atomwaffentests, Rassismus oder Frauenunterdrückung geschreckt hat.
"NO!art heißt… zu versuchen, allein zu denken", sagt er, der einer der Gründer von NO!art ist, die Ende der 50er Jahre als Gegenbewegung zum etablierten Kunstmarkt und zur Pop-Art entstand, bei der immer "alles wunderbar"war. Sie hingegen wollten "subjektiv und politisch"sein. Dem sauber Gefälligen setzte NO!art den Tabubruch entgegen, die Provokation. Damals begann Lurie mit Collagen wie "Massaker von My Lai" und "Lumumba ist tot", das Totalitarismus-Symbole mit Happy New Year 2016Werbefotos verband, ein Hakenkreuz mit Stripperinnen, oder eben die Shoah mit Pin-Ups...
Für heutige Sehgewohnheiten wirken die Bildchen, die bei Lurie wie in den Spindtüren von Bauarbeitern hängen, fast harmlos und antiquiert: üppige Busen, Strapse, platinblonde Turmfrisuren – harmlos, bis sie ein Bild mit ausgemergelten Männern in Häftlingskleidung einrahmen … Buchenwald.
Die Allianz der quicklebendigen nackten Mädchen mit dem Grauen macht die hundertfach gesehenen (oder übersehenen) Bilder auf neue Weise schockierend. Lurie geht weiter – die Stripperin, die dem Betrachter in "Railroad Collage" ihren nackten Hintern entgegenstreckt, umrahmt nichts, sie steht mitten drin, hineinmontiert in einen Leichenberg auf einem offenen Eisenbahnwaggon.
Darf man so etwas? 1963 war das Bild ein Skandal, und noch immer bleibt einem bei dem Anblick die Luft weg. Aber ging es Lurie um den Skandal? Dass sie um des PR-Effekts willen "das Grauen trivialisieren" und die Opfer lächerlich machen würden – das wird auch heute gern geschrieben, wenn Künstler es wagen, mit ihrer Kunst zu behaupten, dass nicht die Nackten obszön sind, sondern die Gaskammern und die Atombomben oder dass "Auschwitz menschlich ist", von Menschen gemacht und prinzipiell wiederholbar. Darf man den Finger so tief in die Wunde bohren? Darf man die Lagertoten mit den Lustnackten Gleichstellung weiter denke zusammenbringen? Darf man dem Millionentod den eigenen Überlebenswillen entgegenstellen?
Verzeihen wir es Lurie, weil er Jude ist? Oder weil er im KZ war? Adelt ihn das? Dürfte ein Nichtjude es also nicht? Wovon hängt das ab? Von Alter, Religion, Nationalität? Immer dieselben Fragen.
"Ich hätte gern angenehme Bilder gemacht, aber es hat mich immer etwas gehindert", sagt Boris Lurie. Er hat nur kurz "illustrative Erinnerungen" gemalt – Bilder mit Stacheldraht, Männer an Galgen. Aber das war "nicht die richtige Kunst", und es war nicht genug, um auszudrücken, was doch niemand verstehen konnte.
Irgendwann war die erste Skizze einer zerstückelten Frau da. Erst später sei ihm klar geworden, dass das alles mit der Vergangenheit zu tun hatte… und mit Horrorfotos in Hochglanzmagazinen.
Im Mai 1945 hatte Amerika zum ersten Mal Fotos aus den KZ zu sehen bekommen – zwischen Reklameseiten und Partyberichten. Vorher, als das Morden noch im Gange war, hatte sich die Presse geweigert, zu berichten.
Was geht da in einem wie Lurie vor, der die Familie verloren hat, der mit seinem Vater bereits Riga, Lenta und Stutthof überlebt hatte, bevor sich beide für ein Außenkommando von Buchenwald meldeten, weil Buchenwald so "einen guten Ruf hatte". Vier Jahre Hölle. Dann die Befreiung. Dann das Verdrängen.
Während Vater Lurie Geschäfte mit Thyssen macht, fängt Boris als Dolmetscher bei den Amerikanern an. "Ich war mit den Siegern… Ich war nicht der überlebende KZ-Häftling."
Nur keine Schwächen zeigen. "Boris ist stark", sagt da jemand und "Boris ist kein Opfer". In der Tat ist Boris Lurie einer, dem es unter widrigsten Umständen immer wieder gelang, zu überleben und Kunst zu schaffen. Und doch läuft noch eine anderer "Film" in diesem Film mit – der sich spiegelt in seiner voll gestopften chaotischen Behausung, im zwanghaften Sammeln und Bewahren, in übervollen Kühlschränken.
Boris isst und raucht, und isst und raucht und füllt immer wieder die Vorräte auf. "Die Hauptsache ist der Magen", sagt er, als jemand fragt, ob die Leute im Lager an Sex gedacht hätten – "so einfach ist das". So einfach ist das. Das, was hinter Statement und Fassade ist, erschließt sich aus seinen eingeblendeten Gedichten und dem, was die Kamera gesehen hat: Boris´ Leben und das der Welt hängt in Schichten an den Wänden: Fotos, Briefe, Zeitungsausrisse, gesuchtes, gefundenes. "Du denkst, mein Freund, was war, das ist nicht länger...". Nichts ist vorbei.
Bilder, die ihm wichtig sind, hat Lurie in durchsichtige Folie verpackt: Fotos vom Vater, den Geschwistern, der hübschen Schulfreundin, Borja als Baby, als Junge ("ich war ungezogen, ein paar mal bin ich von der Schule geflogen"). Ein Stadtplan von Riga und der Weg nach Rumbula, wo seine Mutter, die Großmutter und die kleine Schwester ermordet wurden. Darüber redet er nicht, er nennt Eckdaten. Der Tod steckt in den Pausen. Es ist Beatrice, die französische Freundin, die tausende Kilometer entfernt von seinen nächtlichen Alpträumen spricht.
Die Ermordung der Frauen seiner Familie und seine Jugend, die keine war – das sei sein Problem, meint ein Freund, deswegen sei er nicht verheiratet. Wie das mit Boris und den Frauen tatsächlich war, lässt sich nur ahnen – ein paar vergilbte Fotos, der junge Boris, mit hoher Stirn und Schnauzbart… Nur seine Geliebte von einst, Beatrice, die einem Picasso-Gemälde entstiegen scheint, lächelt: "Boris – das ist die Liebe meiner Jugend". In ihrer eleganten Pariser Wohnung erzählt sie über ihn, den "Großzügigen", den "guten Menschen", den "schönen Mann". Fotos zeigen die beiden am Strand und sie, die erfolgreiche Werbeagentin, auf ihrer Lambretta und High Heels in New York.
"Das hat mich sehr bedrückt", dass sie Geld verdient hat und ich nicht", sagt indes Boris in seiner Wohnhöhle. Aber wer kaufe schon Bilder, "die auf Menschen erschütternd wirken". Ein Interviewpartner findet die einfache Formel: "Er hat sich mit schwierigen Themen befasst" und "Amerika mag keine schwierigen Sachen". Europa auch nicht.
Boris Lurie ist ein Großer, und ist so doch ein Unbekannter geblieben. Einer, der beständig auf dem Grat wandert, bei dem alles Intellekt und "Bauch" zugleich und in Schichten angelegt ist: Da sind die Pin-Ups – von Girlie bis Hardcore – die ihn als Mann magisch anziehen, die zwischen all der Ohnmacht Leben bedeuten, und die ihn abstoßen, weil sie Körper zu Waren machen. Da hängt das Foto eines SS-Mannes, der Spaß daran hatte, nackte Frauen zu knipsen. "Dazu braucht man keinen Boris Lurie", sagt Boris Lurie – es sei derselbe perverse Genuss, den man von den Bildern der Folterer aus irakischen Gefängnissen kenne. Es hört nicht auf.
Und es ist alles doppelbödig – wie die unfreiwillige Symbiose auf Leben und Tod mit dem Vater, dem Geschäftsmann, der von ihm, dem Familienunfähigen sagt: "Boris is a meschuggener", und von dem er sich erst lösen kann, als der stirbt. Nun macht Boris, der Kommunist, in Immobilien und lebt davon, dass er an der Börse anlegt – "mit gutem Erfolg, kann ich sagen, mit sehr gutem Erfolg". Das habe er im KZ gelernt, das "Jagen und Riskieren". Trotzdem kommt der Putz im Studio von der Decke, und weigert er sich, seine Arbeiten in klimatisierten Räumen zu lagern, "weil es viel kostet". Da ist er wieder, der andere "Film"
Richtig lachen, beinahe glücklich, sieht man Lurie nur zweimal: als er ein zurückgekauftes Bild auspackt, das er gleich nach der Ankunft in New York gemalt und danach nie wieder gesehen hat.
Und als der alte Mann sagt: "Ich habe unlängst erfahren, dass die Mädchen mich den schönen Borja nannten". Der "schöne Borja" ist da schon sehr schwach, sogar das Bäuchlein ist weg. Seit Beginn der Dreharbeiten sind acht Monate vergangen. Inzwischen hat er eine neue Herzklappe.
Seine Wohnung wurde renoviert und er bewegt sich zwischen den nun kahlen Wänden wie ein Fremder. Nur sein Kühlschrank, der scheint noch voller.
So ist "Shoa und Pin-Ups" (von Reinhild Dettmer-Finke und Matthias Reichelt) nicht nur ein Film über einen konsequenten Künstler, dessen Werk Würdigung verdient, sondern auch einer über das, was nie vergeht, bis zum Ende, über die Bewältigungsstrategien eines Überlebenden, der hortet und festhält, der lautlos schreit, weil nur so die entsetzliche Einsamkeit zu ertragen ist.
Am Ende trägt Boris wieder seinen Glücksbringer, die Goldmünze, die er all die Lagerjahre im Mund versteckt hielt. Gebe NO!, dass sie ihm noch einmal Glück bringt. (juk
Dr. Inge Pett: Wenn meine Kunst nicht gezeigt wird, ist das so als hätte ich nie gelebt | "In Armut und im Kerker und in Niederlagen gibt es immer noch eine Würde, doch gibt es keine in diesem dicken Konsumentenglück". Der 1924 geborene Boris Lurie, der diese Worte schrieb, hatte gemeinsam mit seinem Vater das Rigaer Ghetto und die Konzentrationslager Stutthof und Buchenwald überlebt. Die Mutter, Großmutter, Schwester und Jugendliebe hingehen waren von einem Erschießungskommando in einem Wald nahe Riga ermordet worden.
Bereits 1946 begann der nach New York emigrierte Lurie, seine Kriegs- und Holocausterfahrungen in einer radikalen „Jew Art“ aufzuarbeiten. Die Ausstellung „Keine Kompromisse! Die Kunst des Boris Lurie“ im Jüdischen Museum Berlin zeugt bis zum 31. Juli in 13 Kapiteln und auf 650 qm vom Werk des radikalen Künstlers.
Konfrontiert mit einer amerikanischen Gesellschaft, die ihm saturiert und ignorant erschien, verknüpfte Lurie die Darstellungen von Leichenbergen mit erotischen Szenen. In seiner aggressiven Serie „Dismembererd Women“ etwa führte er übergewichtige Frauen in obszönen, abstoßenden Posen vor. „Es war meine Reaktion auf New York und auf Amerika. Fette und zerstückelte Weiber. Fett und doch zerstückelt. All das nach dem Krieg und Hunger in Europa.“
Lurie, ein erklärter Gegner der Pop Art und des Abstrakten Expressionismus, hatte 1959 mit seinen Künstlerfreunden Stanley Fisher und Sam Goodman die NO!art-Bewegung gegründet. NO!art stellte eine Reaktion auf eine als banal und kommerziell empfundene Kunstszene dar. So sollte – und wollte – Lurie auch sein Leben lang kein Bild verkaufen. Er investierte das von seinem Vater geerbte Geld klug und setzte auf Aktien von Handyunternehmen in Entwicklungsländern. Der Maler und Dichter starb am 7. Januar 2008 als schwerreicher Mann und hinterließ sein Vermögen der Boris Lurie Art Foundation. „Wenn meine Kunst nicht gezeigt wird, ist das so als hätte ich nie gelebt.“
Seine Kunst, das ist eine einzige Abrechnung in Schrift, Skulptur und Bild. Eine obsessive Abrechnung mit dem weiblichen Körper. Eine Abrechnung mit der Politik, mit einer konsumsüchtigen, haltlosen Gesellschaft, mit Amerika. „Man sollte sich schämen, dass man heute ein Vielfraß-Künstler ist“, schrie und schrieb er seine Verachtung der Welt entgegen: „Stattdessen sollte man sich einen ehrlichen Beruf, wie z. B. Mörder zu Eigen machen.“ Denn um „auf das Wesentliche zielen zu können, brauche man viel Talent“.
Des Künstlers Sarkasmus ist ebenso schwer zu ertragen wie seine Darstellungen der menschlichen Abgründe. Und dennoch – oder gerade deshalb – sind seine verbalen und bildnerischen Ausdrucksformen auch heute noch von großer nachhaltiger Kraft.
In Deutschland ist Lurie nahezu unbekannt. „Du wirst es schwer in den USA und wirst es schwer in Berlin haben“, hatte ihm bereits der 1998 verstorbene Künstlerfreund Wolf Vostell in einem Brief prognostiziert. „Ich wünsche Dir einen angemessenen Platz in der neuen Sammlung ´Zeitgenössischer Kunst gegen das Vergessen` im Jüdischen Museum Berlin. Dort hätte Deine Leistung, Dein Aufschrei, Deine Rebellion als Malerei, einen außerordentlichen Sinn!“. Im Rahmen der bislang größten posthumanen Retrospektive des NO!art-Künstlers Boris Lurie ist dieser Wunsch Vostells nun Realität geworden.
http://www.art-in-berlin.de/incbmeld.php?id=3858
radio eins | 02.03.2016
Keine Kompromisse! Die Kunst des Boris Lurie | Marie Kaiser ist das Herz genauso wichtig wie der Kopf – jedenfalls, wenn es um Kunst geht. Sie streift durch Galerien und Museen, Hinterhöfe und Straßen, Läden und Bars – immer auf der Suche nach Kunst, die bewegt. Wird sie fündig, verrät sie es hier auf radioeins.
„Kunst muss weh tun!“ - Das war das Motto des in der Sowjetunion geborenen Künstlers Boris Lurie. Und mit Schmerz und Leid kannte er sich aus. Fast seine ganze Familie wurde während des Zweiten Weltkriegs von der SS ermordet. Lurie selbst überlebte mehrere Konzentrationslager und wanderte Mitte der 1940er Jahre in die USA aus und gründete mit einer Gruppe von Künstlern in New York die No-Art-Bewegung. Acht Jahre nach seinem Tod zeigt das Jüdische Museum in Berlin jetzt die Anti-Kunst von Boris Lurie in der Retrospektive „Keine Kompromisse!“. Marie Kaiser war für uns da.
BORIS-LURIE-SCHAU: Das Jüdische Museum Berlin widmet Boris Lurie und seiner radikalen künstlerischen Auseinandersetzung mit dem 20.?Jahrhundert aktuell eine grosse Retrospektive. Lurie forderte von der Kunst und dem Kunsthandel politische Relevanz. Mit seinen viel diskutierten und umstrittenen Arbeiten klagt er eine Gesellschaft an, die der Auseinandersetzung mit Menschheitsverbrechen aus dem Weg zu gehen schien, indem sie ihre Zeugnisse zwischen Werbung und Alltagsbanalitäten verpackte. Seine Zeichnungen schlagen hingegen einen anderen Ton an. Mit ihnen schuf der Künstler in der «War Series» von 1946 eine erste Bestandsaufnahme seiner eigenen Erfahrung von Verfolgung und Lagerhaft während der NS-Herrschaft. Mit seiner «Dance Hall Series» aus den fünfziger und sechziger Jahren wiederum entwarf er poetische Bilder seiner Zeit. Das Foto zeigt das Gemälde «No (Red and Black» aus dem Jahr 1963. T
Jüdische Allgemeine | 03.03.2016
Anke Paula Boettcher: DER NEIN-SAGER | Das Jüdische Museum Berlin zeigt Werke des amerikanischen Künstlers Boris Lurie | Unendlicher Schmerz und grenzenlose Liebe konzentrieren sich nahezu physisch im Portrait Of My Mother Before Shooting von Boris Lurie, das er 1947 malte – sechs Jahre, nachdem seine Mutter, Großmutter, jüngere Schwester und seine Jugendliebe bei einer Massenerschießung von den Nationalsozialisten in Riga ermordet worden waren. Der 1924 als Sohn einer jüdischen Familie in Leningrad geborene und in Riga aufgewachsene Boris Lurie und sein Vater erlebten und überlebten die Hölle mehrerer Ghettos und Konzentrationslager.
Der 22-Jährige ging mit dem Vater 1946 nach New York – im Gepäck die zeitlebens gegenwärtigen Traumata und das Grauen der Schoa. Ist das Unfassbare darstellbar? Die Wände des Ateliers, das er sich einrichtete, füllten sich erst zaghaft, dann immer vehementer mit gezeichneten Erinnerungen – die »War Series« und »Saturation Paintings« entstanden. Draußen, in der ignoranten und selbstgefälligen Geschäftigkeit, gab es ohnehin weder Platz noch Interesse dafür.
Stattdessen wurden die Boulevards, Zeitschriften und Märkte mit den perfiden Glücksversprechen eines auf seelischen und physischen Verschleiß getrimmten Hochkapitalismus überflutet. Wie ein Besessener sammelte Lurie dessen Abfallprodukte auf, setzte sich ihnen aus, durchdrang sie, und »allmählich geschah es. Was an den Wänden hing, wurde zu Bildern«. Er fügte die Fragmente dieser unheilvollen Parallelwelten neu zusammen.
In jenen umstrittenen Collagen verbindet er fotografische Zeugnisse der deutschen Vernichtungsindustrie mit Pin-ups des amerikanischen Lifestyle und gibt seinem Ekel über eine Gesellschaft Ausdruck, die nicht willens oder in der Lage ist, vergangenes Morden zu reflektieren und künftiges zu verhindern.
WUNDENDie Zerstörung der weiblichen Integrität und die Degradierung der Frau zum begehrt-misshandelten Objekt einer obszönen Doppelmoral spiegeln sich in den Serien der »Dismembered Women« und »Pin-ups«, in den »Love Series« und »Dance Hall Series«.
So entstand ein veritables Lebenswerk, dessen Sprache die eines entschiedenen Nein ist. Nein zur Gleichgültigkeit. Nein zum Schweigen. Nein zur Lüge. Nein zu einer Kunst, die all den dekadenten Zynismus nicht nur duldet, sondern mit produziert. Gegen den Abstrakten Expressionismus und die Pop-Art als neue Flaggschiffe der Kulturindustrie gründete Lurie 1959 mit befreundeten Künstlern die »NO!art«-Bewegung.
Nicht um Verweigerung ging es den »NO!art«-Künstlern, sondern um Warnsignale gegen Kriegstreiberei, Rassismus, Sexismus und Konsumkultur. Macheten stecken in Beton, Äxte in Holz, Messer in Fleisch, Davidsterne hängen an Seilen, und die Papierreste von Reklame, Hochglanzmagazinen und Wahlpropaganda fügen sich zu großen, irritierenden Collagen einer zerrissenen, gewalttätigen Welt. Sie zeigen auf die Wunden einer Gesellschaft, die sie sich selbst zufügt.
In all den Gemälden, Collagen, Assemblagen, Skulpturen, Zeichnungen und Texten von Boris Lurie hofft man auf eine Katharsis, die nie eintreten konnte. Aber seiner Suche nach ihr verdanken wir dieses aufrüttelnd radikale Werk, das nun mit einer beeindruckenden Retrospektive unter dem Titel »Keine Kompromisse! Die Kunst des Boris Lurie« im Jüdischen Museum Berlin gewürdigt wird. Mehr als 200 zum Teil noch nie gezeigte Arbeiten aus der Zeit zwischen 1940 und 1980 erzählen vom Kampf des Künstlers gegen das Vergessen und die Barbareien des 20. Jahrhunderts.
Die in 13 Kapitel gegliederte Ausstellung entstand in Zusammenarbeit mit der Boris Lurie Art Foundation New York, die nach dem Tod des Künstlers 2008 aus dessen Erbe gegründet wurde. Auszüge aus den Gedichten des Künstlers ergänzen die Werkgruppen programmatisch. Der Medienraum imitiert die Ateliersituation des New Yorkers und bringt uns in filmischen Interviews den Menschen nahe, der sich hinter diesen anklagenden Bildern verbirgt.
PAROLENVon den Wänden des letzten Ausstellungsraumes schreien dem Betrachter Hassparolen gegen Israel, »Lumumba … is … dead« und vieldeutige »Adieus« und »Goodbyes« entgegen. Im Zentrum stehen drei »Immigrant’s NO!boxes« wie mahnende Relikte von Luries Reise ohne Ankunft, eines Unterwegsseins in der Heimatlosigkeit, von der ihn nicht die USA und auch nicht ein Nachkriegs-Europa erlösen konnten. Jene Koffer sind mit den »Souvenirs« von Luries Odyssee durch Leben und Welt beklebt: Lagerhäftlinge und Pin-up-Girls, Hakenkreuz und Davidstern, ein Leben zwischen »No!«, »Anti-Pop« und »I love you«. Die schmerzlichen Objekte sind verschlossen, in ihnen bleiben die Leere und das Unaussprechliche verwahrt, für die Lurie keine Worte fand.
Ein kleines Bild von 1963 – ein grellrotes »NO!« auf Schwarz und leuchtendem Orange – entlässt uns nach draußen in eine Gegenwart, die unvermindert von Hassparolen widerhallt. Der Bogen spannt sich zurück zu jenem orange hinterlegten Raum der »War Series«, wo auch das Bildnis der Mutter hängt.
Im Jahr seiner Entstehung erschien auch die Dialektik der Aufklärung, in der Theodor W. Adorno und Max Horkheimer im Angesicht des Nationalsozialismus schrieben: Der Kulturindustrie »Sieg ist doppelt: Was sie als Wahrheit draußen auslöscht, kann sie drinnen als Lüge beliebig reproduzieren«. Jene philosophischen Fragmente ebenso wie das erschütternde Vermächtnis von Boris Lurie stellen eine Vernunft, auf die sich die westliche Zivilisation beruft, radikal infrage, einzig auf der Suche nach und im Namen einer menschlicheren Menschheit.
»Die Wahrheit ist unser Lehrmeister«, schrieb Boris Lurie 1961. Dieser Satz eröffnet die denkwürdige Berliner Werkschau, deren Besuch ein Muss ist.
Irmgard Berner: SCHAULUST UND ENTSETZEN NACH DER SCHOA | Mein Bild der Woche | Grausamkeiten hat Boris Lurie am eigenen Leib erfahren. Beharrlich erinnerte der Holocaus-Überlebende mit seiner Kunst an die Kriegsopfer und Judenvernichtung, indem er sie in einen aktuellen Kontext mit Werbung, Pornografie und Pollitik stellte.
Verstümmelte, gesichtslose, gefesselte Wesen - obsessiv stellte sich Boris Lurie
gegen das männerdominierte Frauenbild der Sechzigerjahre.
Hingestreckt, die Beine eingeknickt, den Kopf leicht angehoben. Verrenkt, verzerrt, verstümmelt liegt sie da, als Frau erkennbar an den runden Körperformen und Füßen, die, vorne groß im Bild, in schwarzen Plateau-Schuhen stecken, wie sie in den Sechziger-, Siebzigerjahren Mode waren.
Geknebelte, Gefesselte, Geschundene hat Boris Lurie in seinem Werkzyklus "Dismembered Women" auf die rohe, unbehandelte Leinwand gemalt. Blickt man weiter, ergibt sich ein noch größeres Bild. Denn Lurie variiert das Thema der "verstümmelten Frauen", so die deutsche Übersetzung, indem er Pin-up-Girls aus Zeitschriften schneidet, diese collagiert und übermalt. In ihrer verletzten Fleischlichkeit scheinen sie nur eins zu signalisieren: Nie wieder Opfer sein! Und da lassen sie den Künstler selbst erkennen, den als Heranwachsenden traumatische Erlebnisse in Konzentrationslagern prägten, der diese Verletzung in seiner Kunst offensiv und schmerzhaft aufgerissen hat.
"Die Grundlagen meiner künstlerischen Erziehung erwarb ich in KZs wie Buchenwald", wird er in der großen Retrospektive "Keine Kompromisse! Die Kunst des Boris Lurie", die das Jüdische Museum nun, acht Jahre nachdem Lurie 2008 - mit 83 Jahren - in New York gestorben ist, zitiert. Und weiter: Die Folterer ziehen ein gewisses Vergnügen aus ihren Taten, ein sexuelles Vergnügen". So hängen nahtlos die Folterpornos neben der Serie der "Love Paintings", und an der Wand gegenüber die "Saturation Paintings", Collagen, in denen er das Grauen mit dem Satten konfrontiert, historische Fotografien aus den Lagern mit Pin-ups aus Nachkriegsillustrierten: In der "Railroad Collage" ist ein nackter Hintern auf das Foto eines Leichenwagens aus dem KZ montiert. Verstörende Bilder in kruder Ästhetik, das Pornografische klebt wie verschweißt auf dem Bilddokument, das Magazinpapier wellt sich.
Mit diesen Arbeiten trifft Lurie ins Herz massenkultureller und medialer Erinnerung. Schaulust und Entsetzen nach der Schoa, Abbildungen von Leid und Grausamkeit vertragen sich gut mit denen des Sex, beide bedienen auf ihre Weise Marketing und Voyeurismus.
Und dagegen richtet sich der Protest Luries, der nach der Befreiung aus dem KZ mit seinem Vater nach New York gezogen war. 1924 in Leningrad geboren, wuchs er als Sohn jüdischer Kaufleute in Riga auf. 1941 wurden seine Mutter, Großmutter, Schwester und seine Jugendliebe von den Nationalsozialisten im Wald vor Riga erschossen. Er und sein Vater überlebten den Holocaust als Zwangsarbeiter erst in Riga und schließlich in einem Außenlager von Buchenwald.
In New York gründete er 1960 mit Stanley Fisher und Sam Goodman die March Gallery in der Lower East Side - und rief den radikalen Gegenentwurf aus: "NO! Art". Die Kunst: der Anti-Pop. Es ist eine Kunst der Grausamkeit, in der Boris Lurie die Vulgarität von Folter und Erniedrigung, von Mord, Judenvernichtung, Rassismus und Sexismus in Bilder fassen will. So ist ein Saal ganz in Schwarz der NO!art und den "Hard Writings" gewidmet. Mit plakativen Schriftbildern stellt er sich gegen jegliche Kommerz-Kunst und den Kunstmarkt, wie ihn etwa Andy Warhol bediente. Er selbst verkaufte seine Kunst nicht.
Die Bilder sind nur schwer zu ertragen. Das Jüdische Museum präsentiert das disparate und radikale Werk indes ohne Pathos. Das macht sie dann doch erträglich. Man erlebt diesen Boris Lurie als einen Zerrissenen, der zurückgezogen lebte. Erst nach seinem Tod entdeckten seine Galeristin und Gefährtin, Gertrud Stein, und sein Anwalt Anthony Williams im Atelier, wie reich er war. Denn er hat, obwohl Antikapitalist, erfolgreich an der Börse spekuliert. Mit dem Vermögen wird das Werk nun restauriert und öffentlich gemacht.
Wie in einer Zeitkapsel sieht man Lurie im „Medienraum", lebensgroß abgebildet in seiner New Yorker Wohnung, in der er wie in einer schmutzigen, poetischen Collage lebte. Dort hing, so ist im Katalog nachzulesen, zwischen all den Ausrissen des Grauens und des vermarkteten Obszönen immer auch eine Fotografie: die seiner hingeschlachteten Jugendliebe.
Irmgard Berner ist hin- und hergerissen zwischen Staunen und Entsetzen angesichts der verstörenden Kunst des Boris Lurie im Jüdischen Museum. In gnadenlos unbeirrter und obszöner Drastik reißt er darin seine Traumata aus den Konzentrationslagern und Verluste schmerzhaft auf. "NO!art" ist auch Luhes radi-kaler Gegenentwurf zu Kommerz und Kunstmarkt, seine Kunst ist "Anti-Pop".
Die Welt | 07.03.2016
Der Nein-Sager | Jüdisches Museum zeigt Kunst von Boris Lurie | Das Jüdische Museum in Berlin widmet dem Künstler Boris Lurie eine große Retrospektive. Die Ausstellung «Keine Kompromisse! Die Kunst der Boris Lurie» zeigt rund 200 Gemälde, Skulpturen und Collagen des Holocaust-Überlebenden. Viele Werke stammen aus den 1960er und 1970er Jahren. Lurie sei in Deutschland sehr unbekannt und ein «außerordentlich interessanter Künstler», sagte Programmdirektorin Cilly Kugelmann am Donnerstag.
Lurie (1924-2008) wurde als Sohn einer jüdischen Familie im ehemaligen Leningrad geboren und wuchs in Riga auf. Nachdem er mit seinem Vater das Ghetto und später etwa das Konzentrationslager Buchenwald überlebte, wanderte er nach New York aus. Die Berliner Ausstellung, die am Donnerstagabend eröffnet werden sollte, ist nach Angaben der Boris Lurie Art Foundation die größte ihrer Art.
Lurie malte verformte Frauenkörper, ritzte Davidsterne auf Leinwände oder kombinierte Aufnahmen aus Konzentrationslagern mit Pin-up-Mädchen. Als Ankläger von Rassismus, Sexismus und Konsumkultur hätten seine Arbeiten gleichermaßen Entsetzen wie Faszination hervorgerufen, heißt es in der Ankündigung. Lurie gilt auch als Mitbegründer der «NO!art»-Bewegung, die sich gegen die damals populäre Kunst von Pop Art und Abstraktem Expressionismus stellte.
KULTURRUNDSCHAU | Von ihrem Shock Value haben Boris Luries radikale, anstößige Collagen, die mitunter Bilder der Shoah mit aufreizenden Pin-Ups kreuzen, bis heute nichts verloren, schreibt Ulrich Gutmair in der taz. Das Jüdische Museum Berlin widmet dem Zeit seines Lebens verfemten Künstler nun die bislang größte Retrospektive seines Werks: Der Künstler "schämte sich nicht, in seinem 'Müll-Atelier' voller Pin-ups zu arbeiten und überhaupt außerhalb der Gesellschaft zu leben, wie er einmal sagte. Er schämte sich auch nicht dafür, in seinen Collagen die Körper der Geschundenen neben die Körper von Frauen zu stellen, die einem Blick preisgegeben sind, in dem sich die Macht über den anderen konstituiert. Das Sichtbarmachen dieses Blicks, das Zeigen von Ereignissen, die man nicht sehen, über die man nicht sprechen soll, werden hier verhandelt - und damit die Unterdrückung von Sexualität und Nacktheit in autoritären Gesellschaften, die durch patriarchalische Herrschaftsverhältnisse bedingt ist."
Jacek Slaski: Anti-Pop-Art | Boris Lurie – Mann des Widerspruchs | Das Jüdische Museum würdigt in der Retrospektive "Keine Kompromisse!" Boris Lurie, den Begründer der NO!art, einen Gegner von Kunstmarkt und Andy Warhol. Es gibt eine Anekdote darüber, wie die NO!art zu ihrem Namen gekommen sein soll: Eine Galerie in der Lower East Side stellt Ende der 1950er-Jahre eine Collage aus, auf der Boris Lurie Fotos verrenkter Leichen von KZ-Häftlingen und üppiger Pin-Up-Girls übereinander montiert hatte. Eine Besucherin sah das Bild und lief schockiert „No!, No!, No!“ schreiend hinaus.
Die NO!art war geboren, deren geistiger Vordenker Boris Lurie (1924-2008) wurde. Ein sperriger Mann des Widerspruchs, ein Jude, der Stalin verehrte und deutsche Schäferhunde hielt, nicht heiratete und keine Kinder bekam und geradezu manisch malte, zeichnete, collagierte und schrieb, doch absichtlich nie von seiner Kunst lebte. Er lehnte den Kunstmarkt ab. Offiziell hat er nie ein Bild verkauft und früh verstand er die NO!art als Gegenposition zu Andy Warhol und dessen Pop Art, die er für seicht und kommerziell hielt. „Kunst ist wirkliches Dasein“, postulierte er und wetterte gegen Sammler, Professoren und Spekulanten. Sein beträchtliches Vermögen hat der Revolutionär jedoch mit Ramschaktien und Immobilien gemacht.
Mit „Keine Kompromisse! Die Kunst des Boris Lurie“ präsentiert das Jüdischen Museum seine bis dato größte Retrospektive. Der erklärte Kunstbetriebs-Verächter bekommt damit eine geradezu klassisch gehängte Ausstellung in einem etablierten Museum. Ein weiterer Widerspruch, der ihm vermutlich gefallen hätte. Mehrere hundert, teilweise nie zuvor gezeigte Zeichnungen, Skulpturen und Gemälde wurden dafür aus dem Archiv hervorgeholt und restauriert. Frühe großformatige Bilder, die sich direkt auf seine Holocaust-Erfahrung beziehen, daneben ein Raum mit filigranen Zeichnungen und allen voran die expressiven, symbolisch aufgeladenen Manifeste der NO!art aus den 50er-und 60er-Jahren.Lurie kannte keine Grenzen, weil er den Bruch der Grenzen erfahren hat. Nahezu seine gesamte Familie wurde von den Nazis ausgelöscht, er selbst emigrierte 1945 nach New York und suchte fortan nach einer visuellen Sprache für etwas, was eigentlich nichtausgedrückt werden konnte –denMassenmord an den europäischen Juden.
Kunst studiert hatte er nie. „Die Grundlagen meiner künstlerischen Erziehung erwarb ich in Buchenwald“, sagte er und entwickelte eine ästhetische Formsprache für die „jüdische Erfahrung“. Er verwendete explizite Fotografien, pinselte grobe Hakenkreuze und Judensterne und schuf eine singuläre künstlerische Position, die er vor der Öffentlichkeit verborgen hielt. Viel zu lang, wie man jetzt feststellen muss, auch weil das Werk wenig von seiner von seiner Drastik verloren hat. Die Kunst des Boris Lurie ist mehr als eine Entdeckung, sie ist eine Sensation.
„Mort aux Juif! Israel imperialiste“ verknüpft Nazipropaganda mit zeitlosen
antisemitischen Slogans, 1970. Foto: Boris Lurie Art Foundation, New York
Ulrich Gutmair: Boris Luries Holocaust-Collagen | Die Gewalt nach unten verschieben Boris Lurie verarbeitete in drastischen Collagen und Gemälden seine Erfahrungen als Überlebender der deutschen Konzentrationslager. | Die Collagen Boris Luries können auch nach fünfzig Jahren noch schockieren. In „Railroad to America“ von 1963 kombinierte der Künstler zwei Schwarz-Weiß-Fotografien, die er in Zeitungen und Illustrierten gefunden hatte, zu einem verstörenden Bild. Das größere der beiden Fotos zeigt die Ladefläche eines Eisenbahnwaggons. Die geöffnete Seitenklappe gibt den Blick frei auf ein Bild des Schreckens.
Nackte, ausgemergelte Körper liegen dort übereinander geworfen wie die Ladung eines Rohstoffs, der von einem Ort zum anderen transportiert wird. Auf dieses Fotodokument klebte Lurie ein Foto aus einem Girlie-Magazin. Die darauf abgebildete junge Frau hat makellose Haut und wendet der Kamera ihren Rücken zu. Sie trägt Strapse und ist dabei, ihre Unterhose nach unten zu ziehen, um dem Betrachter ihren Po zu zeigen.
Viele von Boris Luries Werken sind schwer auszuhalten, auch wenn der Künstler das Nebeneinander von Tod, Grausamkeit und Nacktheit in den Illustrierten seiner Zeit genauso vorgefunden hatte. Lurie bedauerte, dass seine Kunst wenig Anklang fand, und er beklagte seine Isolation als Künstler. Aber er könne auch verstehen, dass man sich solche Arbeiten nicht ins Wohnzimmer hängen wolle. Er hätte gerne angenehme Bilder gemacht, hat er einmal gesagt, aber etwas habe ihn daran gehindert.
Nach den Vernichtungslagern leben wir im Bewusstsein, dass man Menschen millionenfach versklaven und ermorden kann, ohne dass das den Gang der Dinge stören würde. Die Erde dreht sich weiter, Gott straft die Mörder nicht. Das Entsetzen darüber kann man unmittelbar in Luries Werken spüren, die damit selbst zum Skandal werden. Es ist nicht verwunderlich und auch nicht zu kritisieren, dass viele Betrachter sein Werke für obszön halten. Arbeiten wie „Railroad to America“ wurde vorgeworfen, sie seien eine Beleidigung für die Überlebenden des Massenmords. Der Schriftsteller Elie Wiesel, der selbst in Auschwitz und Buchenwald war, wurde noch drastischer. Er sagte über Luries Collagen: „Eine in der Geschichte nie dagewesene Tragödie in eine groteske Karikatur umzuwandeln, heißt nicht nur, sie ihrer Bedeutung zu berauben, sondern auch, sie in eine Lüge zu verwandeln. Ich nenne das einen Verrat.“
Es ist daher nicht ohne Risiko, aber richtig, dass das Jüdische Museum in Berlin „Railroad to America“ neben 200 anderen Werken in der Ausstellung „Keine Kompromisse. Die Kunst des Boris Lurie“ zeigt. Es ist die bislang größte Retrospektive des Künstlers, der am Markt erfolglos war und von den Kunstmuseen immer noch ignoriert wird. Sein Werk hat auch nur als Fußnote Eingang in den Kanon der Kunst des 20. Jahrhunderts gefunden. Lurie, der im Januar 2008 starb, bezeichnete seine Kunst im Kontext einer von ihm gegründeten Bewegung als „No!Art“, aber auch als Jew-Art und Antipop. Sie stellt uns auch heute die Frage, was es bedeutet, im Zeitalter der Massenvernichtung zu leben und als Zuschauer und Mitwisser an ihr teilzuhaben.
In Berlin sind frühe Zeichnungen und Gemälde zu sehen, die noch illustrativ von Luries eigenen Erfahrungen in den Konzentrationslagern zu erzählen versuchen. Aus den Fünfzigern stammen die Gemälde der Serie „zerstückelter Frauen“, die Lurie noch auf der Suche nach einer adäquaten ästhetischen Form für seine Erfahrungen und Überlegungen zeigt. Spätere Collagen und Gemälde arbeiten mit Fotos und Slogans. Mit Fotos beklebte und mit Hakenkreuzen und Davidsternen bemalte Koffer symbolisieren das Überleben. Im Sommer 1946 war Lurie mit seinem Vater von Deutschland nach New York ausgewandert, weil dort die ältere der Schwestern Boris Luries lebte.
Es kann sich wiederholen
Boris Lurie wurde am 18. Juli 1924 in Leningrad als jüngstes von drei Kindern des jüdischen Ehepaars Ilja und Schaina Lurje geboren. Ein Jahr später zog die Familie nach Riga. Nach der Besetzung Lettlands durch deutsche Truppen und der Ghettoisierung der jüdischen Bürger bestand seine Mutter darauf, dass sich die Männer der Familie zum Arbeitseinsatz melden sollten, um größere Überlebenschancen zu haben. Erst Monate später erfuhren die beiden davon, dass Boris’ Mutter, seine Großmutter, seine Schwester Jeanna und seine Jugendliebe Ljuba im Winter 1941 zusammen mit 27.000 anderen Menschen in einem Wald bei Riga erschossen worden waren. Die Mörder der Einsatzgruppen hatten die Menschen zuvor gezwungen, sich zu entkleiden.
Über dem Schreibtisch von Boris Luries Atelier in der Lower East Side hing eine Aufnahme von einem der Täter der Massenmorde an Juden im Osten Europas, der Vergnügen daran fand, nackte Frauen zu fotografieren, an deren Erschießung er beteiligt war. Lurie hat diese Fotografie kurz nach der Jahrtausendwende in einem Filminterview zum Anlass genommen, einen Vergleich zu Ereignissen im Irak zu ziehen: „Das drückt die Art und Weise der Gesellschaft aus, wo der Stärkere den Schwächeren unterdrückt, und die Folterer kriegen einen gewissen Genuss davon. Einen sexuellen Genuss.“
Boris Lurie, „Railroad to America“, 1963. Foto: Boris Lurie Art Foundation, New York
Auch das ist schwer verdaulich, weil wir uns daran gewöhnt haben, die geplante und oft mit bestem Gewissen durchgeführte Vernichtung von Millionen Menschen durch das nationalsozialistische Deutschland – Himmler befand stolz, dass die SS immer „anständig“ geblieben sei – als singulären historischen Vorgang zu betrachten. Luries Kunst stellt diese Perspektive nicht infrage, konfrontiert uns aber damit, dass derartige Verbrechen sich nicht nur jeder Historisierung entziehen, sondern sich jederzeit wiederholen können.
Luries Collagen aus den Sechzigern beließen es daher nicht dabei, die Ungeheuerlichkeit der Massenerschießungen und Vernichtungslager zu zeigen. Sie klagten den Tod des kongolesischen Premierministers Lumumba an und den Algerienkrieg. Das in der „No!Art“ zum zentralen Begriff erklärte „No“ erscheint als Wort auf immer neuen Bildern. Für Lurie folgte aus der Erfahrung der Geschichte der kategorische Imperativ, Nein zu sagen. „Nein heißt, nicht alles anzunehmen, was dir gesagt wird. Versuchen, allein zu denken und zu reagieren. Und es ist ein Ausdruck der Unzufriedenheit. Da gab’s Grund, gegen das System zu sein.“
Mit der Verwendung von Pin-ups wandte sich Lurie „gegen die Vermarktung der Frauen in den Massenmedien“ und überhaupt gegen gesellschaftliche Strukturen, in der Menschen zu Objekten degradiert werden. Lurie eignete sich auch Fotos an, die sadomasochistische Praktiken zeigten. Die Frage, ob seine Kunst keine Scham kenne, beantwortete er in einem eigenen Werk.
„Altered Photo (Shame!)“ entstand 1963. Die größte Fläche des Bildes nimmt der rote, monochrome, aber leicht unregelmäßig aufgetragene Ölgrund ein, ein warmes Rot. Auf diesem Hintergrund sind zwei Rechtecke aus dunklerem Rot aufgetragen. Eines bildet den unteren Rand des Bildes, das andere steht hochkant in der oberen Hälfte. Darauf hat Lurie ein Schwarz-Weiß-Foto geklebt, das zwei nackte Frauen zeigt, die sich überrascht darüber geben, gesehen zu werden und kokett ihre Scham verdecken.
Lurie kritisierte „die Kommerzialisierung von Sex durch die Frauen selber“, aber damit ist immer noch nicht alles über die Verwendung von Pin-ups gesagt. Die Gegenkultur der Sechziger beantwortete die puritanische Prüderie gegenüber Darstellungen von Nacktheit und Sexualität mit dem Hinweis, das Verbrennen von Menschen mit Napalm sei obszöner als das Zeigen nackter Brüste. Die Wahrheit der Kultur drücke sich in der Pornografie aus, glaubte Lurie: „Hart, hässlich, schmutzig, ekelhaft. Die Verzweiflung, die Enttäuschung und die Gewalt nach unten verschieben, in die erotischen Zonen. Sadomasochismus in der Öffentlichkeit, praktiziert, um die Niederlage und die Schuldgefühle zu mildern.“
Lurie schämte sich nicht, in seinem „Müll-Atelier“ voller Pin-ups zu arbeiten und überhaupt außerhalb der Gesellschaft zu leben, wie er einmal sagte. Er schämte sich auch nicht dafür, in seinen Collagen die Körper der Geschundenen neben die Körper von Frauen zu stellen, die einem Blick preisgegeben sind, in dem sich die Macht über den anderen konstituiert. Das Sichtbarmachen dieses Blicks, das Zeigen von Ereignissen, die man nicht sehen, über die man nicht sprechen soll, werden hier verhandelt – und damit die Unterdrückung von Sexualität und Nacktheit in autoritären Gesellschaften, die durch patriarchalische Herrschaftsverhältnisse bedingt ist. Beim Betrachten von Luries Collagen stellt man sich aber irgendwann die Frage, ob die Pin-ups und „Girlies“ nur Objekt auch seines Blicks sind, oder ob er sich nicht vielmehr mit ihnen identifiziert. Lurie wusste, dass er es nur dem Zufall verdankte, überlebt zu haben.
„Der Jude ist schlecht“
In den Sechzigern operierte Lurie im Umfeld der radikal libertären und antikapitalistischen Gegenkultur. Anfang der Siebziger meinte er aber zu beobachten, wie der Antiimperialismus der Neuen Linken einem Rassismus der Unterdrückten das Wort redete. Als linker Zionist geißelte er den Antisemitismus der Linken: „Der Jude ist schlecht, der Araber der Engel, und Israel des Teufels. Das ist den Europäern willkommen. So können sie ihre angestaute Kollektivschuld gut über Bord werfen“, schrieb er 1975.
Kurz vorher war er zu einer Ausstellung der Neuen Linken in Paris eingeladen worden, die „Aspekte des Rassismus“ verhandeln sollte. Er schickte zwei Bilder hin, die dann aber aufgrund einer Entscheidung des Kollektivs der ausstellenden Künstler nicht gezeigt wurden: Sie waren zu radikal. Das eine trug den Titel „Antizionismus ist gleich Rassismus“, es gilt derzeit als unauffindbar.
Das andere ist „Mort aux Juif! Israel imperialiste“ betitelt. Es sieht aus wie eine Wand voller Graffiti, die Nazipropaganda – „judenrein“ – mit zeitlosen antisemitischen Slogans und einem Lob auf die Dritte Welt und Al Fatah verknüpft. Lurie war einmal mehr dem Ruf Luis Buñuels gefolgt, der gefordert hatte, Kunst sei dafür da, den Status quo aus dem Gleichgewicht zu bringen.
http://www.taz.de/!5284115/
Berliner Woche | 09.03.2016
Kompromissloser Künstler: Boris Lurie starb 2008 im Alter von 83 Jahren in New York. In einer großen Retrospektive sind jetzt im Jüdischen Museum mehr als 200 Collagen, Gemälde und Zeichnungen dieses unangepassten Künstlers zu sehen. Der Titel der Schau lautet: "Keine Kompromisse". Denn Lurie stellte sich Zeit seines Lebens gegen den kommerzialisierten Kunstbetrieb und auch gegen manche gesellschaftlichen und ästhetischen Konventionen.
Das hängt mit seiner Lebensgeschichte zusammen. Boris Lurie, geboren im damaligen Leningrad, hat als Jugendlicher zusammen mit seinem Vater das Ghetto in Riga und die Konzentrationslager Stutthof und Buchenwald überlebt. Seine Mutter, Großmutter, jüngere Schwester und seine Jugendliebe wurden 1941 bei Massenerschießungen ermordet. 1946 emigrierte er in die USA. Im gleichen Jahr entstand sein Zyklus "War Series", in dem er seine Verfolgung und Haft verarbeitete. Die Bilderserie war eigentlich nicht zur Veröffentlichung gedacht und wurde erst 2013 in New York gezeigt.
Provokante Collagen
In späteren Werken provozierte Lurie zum Beispiel mit Collagen, die historische Holocaustfotos mit Pin-up-Motiven aus amerikanischen Zeitschriften verbindet. Damit wollte er vor allem eine Gesellschaft aufrütteln, die wenig von den Schrecken des Zweiten Weltkriegs und der Vernichtung der europäischen Juden gezeichnet war. Andere, ebenfalls oft drastisch dargestellte Themen, waren der Rassismus und Sexismus in den Vereinigten Staaten. Oder der Politikbetrieb, den er als indifferent und mutlos empfand. Außer als Maler war Boris Lurie auch als Lyriker und Romanautor aktiv. tf
Gisela Herwig: KEINE KOMPROMISSE! | Die Kunst des Boris Lurie | Im Jüdischen Museum Berlin kann man (noch bis Ende Juli) eine spektakuläre Werkschau des US-amerikanischen Künstlers und Autors Boris Lurie (1924-2008) besichtigen: "Mit seinen viel diskutierten und umstrittenen Arbeiten klagt er eine Gesellschaft an, die der Auseinandersetzung mit Menschheitsverbrechen aus dem Weg zu gehen schien, indem sie ihre Zeugnisse zwischen Werbung und Alltagsbanalitäten verpackte.
Luries Collagen konfrontieren den Betrachter mit dieser fragwürdigen Rezeption der Schoa und provozieren 'Entsetzen und Faszination' (Volkhard Knigge). Denn Lurie verbindet den Ekel gegen eine Menschheit, die zu millionenfacher Vertreibung und Massenmord fähig war, mit dem Abscheu vor einem selbstgefälligen Kunstbetrieb, der mehr am finanziellen Gewinn als an der künstlerischen Aussage interessiert ist. Seine Zeichnungen schlagen hingegen einen anderen Ton an. Mit ihnen schuf der Künstler in der 'War Series' von 1946 eine erste Bestandsaufnahme seiner eigenen Erfahrung von Verfolgung und Lagerhaft während der NS-Herrschaft. Mit seiner 'Dance Hall Series' aus den 1950er- und 60er-Jahren wiederum entwarf er poetische
Bilder seiner Zeit." (Quelle: jmberlin.de)
Boris Lurie war der in Leningrad geborene Sohn einer jüdischen Familie und wuchs in Riga auf. Dort überlebte er mit seinem Vater das jüdische Ghetto und gelangte später in die KZs Stutthof und Buchenwald. Er verlor seine Mutter, seine Großmutter, seine jüngere Schwester und seine Jugendliebe, die 1941 bei einer
Massenerschießung ermordet worden waren. All diese Erfahrungen prägten sein weiteres Leben.
"1946 wanderte er mit seinem Vater nach New York aus. Mit einer Gruppe befreundeter Künstler gründete er 1959 die 'NO!art'-Bewegung, die sich dem Abstrakten Expressionismus und der Pop-Art, vor allem aber der Ökonomisierung der Kunst entgegenstellte und sich politischen Themen wie etwa Rassismus, Sexismus und Konsumkultur widmete." (Quelle: jmberlin.de)
Der Künstler starb am 7. Januar 2008 in New York.
Die Retrospektive ist in mehrerlei Hinsicht beeindruckend und aufschlussreich!
"Die umfassende Schau präsentiert in 13 Kapiteln und einem Medienraum das Werk Luries, der 2008 im Alter von 83 Jahren in New York starb. Auf 650 Quadratmetern werden mehr als 200 Collagen, Zeichnungen, Gemälde, Assemblagen und Skulpturen aus allen Perioden seines Schaffens gezeigt. Wie kaum ein anderer hat Boris Lurie die radikale künstlerische Auseinandersetzung mit dem Holocaust und dem 20. Jahrhundert gesucht', sagt Cilly Kugelmann, Programmdirektorin des Jüdischen Museums Berlin. 'Seine Kunst hat nichts von ihrer provokativen Kraft und ästhetischen Radikalität verloren. Das verstörende Moment, das sein Leben so unerbittlich geprägt hatte, spricht mit einer großen kreativen Fähigkeit und aggressiver Wut aus seinen Bildern und Texten.'" (Quelle: jmberlin.de)
Giacomo Maihofer: Ausstellung im Jüdischen Museum : Komm mir nicht mit Kompromissen! | Boris Lurie: KZ-Überlebender, Kunstrebell, Vulgärromantiker. Mit seiner "NO!art" provozierte er in den 1960er Jahren die New Yorker Kunstszene und kämpfte gegen Kommerz und Elitarismus. Das Jüdische Museum in Berlin entdeckt ihn jetzt neu.
Auf dem Gelände des Konzentrationslagers Stutthof bei Danzig steht ein Galgen. Die Aufseher haben ihn am Tag zuvor errichtet: für den jungen Polen, der sich in seiner Verzweiflung auf einen SS-Mann gestürzt und ihm mit einem Montierschlüssel auf den Kopf geschlagen hat. Jetzt soll der Junge gehängt werden. Es ist vier Uhr morgens, kalt und trocken. Der Lagerälteste blickt in die Versammlung. Die Häftlinge wenden den Blick ab, einige tuscheln. Er brüllt, „Ruhe!“. Dann tritt er den Stuhl weg, auf dem der Delinquent mit der Schlinge um den Hals steht. Der ruft noch: „Lange lebe die Rote Armee und die Sowjetunion!“ Dann fällt er, zuckt, verstummt. Die Häftlinge nehmen ihre Mützen runter, einer nach dem anderen, es ist wie eine Welle. Boris Lurie starrt aus den hinteren Reihen auf den toten, unbekannten Rebellen. Später widmet er ihm eines seiner ersten Bilder. Auch in seinen Schriften hat er die Szene festgehalten.
Das Bild ist jetzt im Jüdischen Museum zu sehen, der ersten Retrospektive, die Boris Lurie gewidmet wird. Die Werkschau zeigt über 200 Arbeiten, frühe Zeichnungen und Ölgemälde, Collagen, Installationen und Dokumentationen über einen fast vergessenen Künstler, der 1924 als Sohn einer angesehen jüdischen Kaufmannsfamilie geboren wurde. Die Familie lebt in Riga, der lettischen Hauptstadt. Als die Nationalsozialisten einmarschieren, wird sie auseinandergerissen, Lurie und sein Vater müssen im Ghetto Zwangsarbeit leisten, seine Mutter, Großmutter, Schwester und seine große Liebe werden in den Wald von Rumbula getrieben und ermordet. Bei dem dreitätigen Massaker erschießen die Schergen über 27 000 Juden. Lurie überlebt den Holocaust, die Konzentrationslager Stutthof und Buchenwald.
Mit 20 Jahren emigriert er nach New York, beginnt zu malen und zu zeichnen, expressionistische Ölgemälde, kubistische Formen, Radierungen, mit denen er seine Erfahrungen im Holocaust verarbeitet. Seine großformatigen Arbeiten besitzen eine Ähnlichkeit mit den frühen Werken Jackson Pollocks. Die New York Times wird auf ihn aufmerksam und lobt ihn als interessanten Künstler. Aber Lurie ist angewidert von der New Yorker Kunstszene, von den Horden betuchter Akademikerkinder, die plötzlich in die Lower East Side wie ins gelobte Land strömen, von den Kunstakademien, die den Nachwuchs in Massen abfertigen, von den Künstlern, die sich als eine kleine Gruppe Eingeweihter verstehen, die L’art pour l’art produzieren.
Drastische Symbolik: KZ-Bilder mit Pin-Up Girls
Mit zwei Freunden gründet Lurie 1959 die Kunstbewegung „NO!art“. Sie stellt eine Absage an die Konfektionierung der Kunst, die Konsumverherrlichung und Werbeästhetik von Pop-Künstlern wie Andy Warhol und Roy Lichtenstein dar. Am stärksten aber positioniert sie sich gegen das Getriebe von Galerien, Museen und Markt. Kunst geht laut „NO!art“ alle Menschen an, soll eine populäre Bewegung sein, die in ihrer höchsten Stufe eine demokratische Ästhetik besitzt. Kein lebloses, elitäres Millionengeschäft.
Die March Gallery in der 10. Straße, in der die NO!-Artists in Manhattan ihr Quartier beziehen, wird zum Hotspot für Künstler, Beatniks, Junkies. Unter dem Dach werden wüste Partys gefeiert, im Ausstellungsraum chaotische Protestversuche inszeniert: ekstatisch, düster, ordinär. An drastischer Symbolik mangelt es nicht. Angeschmolzene Zinnsoldaten werden auf einem verformten Schachbrett platziert, angebrannte Babypuppen mit Blumensträußen drapiert. Lurie fertigt aus Magazinausschnitten und Pin-Up-Girls Collagen. In seinen bekanntesten Werken „Saturation Paintings (Buchenwald)“ und „Railroad to America“ überklebt er mit halbnackten Models die ikonischen KZ-Bilder der Kriegsfotografin Margaret Bourke- White, deren Originalbilder im Mai 1945 im LIFE-Magazin erschienen waren. Der Holocaust war dort als Titelgeschichte zwischen Anzeigen für Nylonstrümpfe und Backrezepten abgehandelt worden. Lurie entlarvt den Voyeurismus der Nachkriegsgesellschaft, die den Massenmord ästhetisch in Szene setzt, den pornografischen Blick auf die Ermordeten.
Die Kritiken sind größtenteils vernichtend. Die Ausstellungen, an denen zeitweise auch Allen Kaprow, Jean-Jacques Lebel und Erro teilnehmen, werden als abstoßend empfunden. 1964 organisiert die Gruppe ihre letzten Auftritt, die Shit- Show. Der Name ist Programm. Scheisshaufen aus Gips werden flach auf dem Boden der March Gallery verteilt, jeder mit dem Namen eines Sammlers, Kritikers oder Galeristen versehen.
Die Shit-Show ist ein Erfolg
Die Schau wird ein Besuchererfolg, die Kritik ist begeistert. Tom Wolfe, der damals für die Washington Post arbeitet, schreibt: „Ja, das waren 75 Jahre moderne Kunst, die sich mit einer unbestechlichen Logik bis zu dieser Situation hin bei ihnen entwickelt hatte. (…) Sie – das ist die New Yorker Kulturschickeria – betrachten angespannt die Hügel auf dem Fußboden und reden in ihrem Jargon über Masse, Spannungen, Ausdruck, Ambiente.“ Der einflussreiche Pop-Art-Galerist Leon Kraushaar will die „NO!art“- Skulpturen kaufen und die Gruppe unter Vertrag nehmen. Boris Lurie tobt: „Diese Leute sind von der Ästhetik der modernen Kunst und dem zweideutigen Gequatsche so eingeschüchtert, dass sie Angst davor haben, die Sachen als das anzusehen, was sie sind, nämlich Scheiße.“
Kurz darauf verläuft sich die „NO!art“-Bewegung. Einer der Gründer stirbt, ein anderer schließt sich einer esoterischen Sekte an. Lurie organisiert mit anderen Künstlern wie dem Berliner ►Dietmar Kirves bis zu seinem Tod 2008 Ausstellungen in Deutschland und den USA. Allerdings ohne große Resonanz.
Das soll nun anders werden mit der Retrospektive „Die Kunst des Boris Lurie – keine Kompromisse!“ im Jüdischen Museum. Mit der musealen Präsentation seiner Werke geht jedoch der chaotische Charme ihrer Entstehung, ihre Wirkung verloren. Problematisch ist vor allem die Kooperation mit der „Boris Lurie Art Foundation“ mit Sitz in New York und ihrem Alleinvertretungsanspruch für die „NO!art“-Kunst. Lurie, der sich bis auf wenige Ausnahmen weigerte, seine Kunst zu verkaufen, und mit Pennystocks und Immobiliengeschäften ein Vermögen von über 80 Millionen Dollar anhäufte, hatte in seinem Testament verfügt, dass dieses Geld nach seinem Tod für eine Stiftung eingesetzt werden sollte, um die „NO!art“ in die Welt zu tragen.
Stiftung geht gegen Luries Freunde vor
Doch die „Boris Lurie Art Foundation“ hat den Begriff als Handelsmarke eintragen lassen und geht gegen andere „NO!art"-Künstler und Freunde von Lurie vor, unter anderem gegen ►Dietmar Kirves, der im Internet eine umfangreiche Enzyklopädie der Gruppe betreibt und davon berichtet, dass die Stiftung ihm vorwerfe, ihr geistiges Eigentum zu verletzen und ihm mit einer Klage drohe.
Die Berliner Retrospektive ist der Beginn einer Offensive, Ausgangspunkt einer weltweiten Ausstellungstournee. Luries Bilder steigen im Wert. ►Dietmar Kirves wirft der Stiftung vor, die Förderung von Nachwuchskünstlern, die der „NO!art“ nahestehen, wie von Lurie ausdrücklich gefordert, kaum zu betreiben. Gefragt nach den aktuellen Stipendiaten, konnte Vorstandsmitglied Anthony Williams bei der Pressekonferenz zur Ausstellung, keine Namen nennen.
Mit 17 Jahren verlor Boris Lurie seine Mutter, eine seiner beiden Schwestern,
die Großmutter und seine Liebste.
Das Ölgemälde »Zerstückelte Frau, die einen Apfel isst« (1954)
Foto: Boris Lurie Art Foundation, New York
Elena Besukin: Verboten, schön zu malen | Das Jüdische Museum Berlin zeigt »Keine Kompromisse! Die Kunst des Boris Lurie« | Der taube Goya schreit mir ins Ohr – flüstert: Es ist verboten, schön zu malen. Es ist verstaubt, die langsame Genuss-Inspiration für sich – zu haben. Du sollst genießen schwarze Raben« heißt es in einem Gedicht von Boris Lurie, dem das Jüdische Museum Berlin eine große Retrospektive widmet. Sie trägt den Titel »Keine Kompromisse!« Lurie wollte mit seiner Kunst verstören und provozieren, nein sagen zum Verdrängen und Vergessen, nein zum Opfersein.
Luries Werk ist von seinen Erfahrungen als Überlebender des Holocaust geprägt. Er wurde 1924 in Leningrad geboren, die Familie siedelte ein Jahr später nach Riga über, wo der Vater ein erfolgreicher Geschäftsmann war. Mit 17 verlor Lurie fast alle Frauen seines damaligen Lebens: seine Mutter, eine seiner zwei Schwestern, die Großmutter und die Jugendliebe. Sie wurden 1941 in Rumbola bei Riga in einem Massaker von deutschen und lettischen Polizeieinsatzgruppen erschossen. Lurie und sein Vater überlebten die Arbeitslager und KZs Lenta, Salaspils, Stutthof und Buchenwald. Im Außenlager Magdeburg-Polte wurden sie von den Amerikanern befreit. Danach halfen sie den US-Amerikanern bei der Suche nach Kriegsverbrechern. 1946 gingen sie gemeinsam nach New York.
Dort war Lurie ein KZ-Überlebender inmitten der US-Mittelschichtsgesellschaft. Das ergab eine Spannung, die in seinen Werken schließlich explodierte. Als Reaktion auf »die vielen ... fetten« Frauen, wie er sagte, malte er ab 1949 monströse, zerstückelte Frauenkörper, die an Fernand Léger und Francis Bacon erinnerten. Dazu bilden die »Dance Hall Series«, von denen im Jüdischen Museum leider nur wenige zu sehen sind, einen zärtlichen Kontrast. 1959 gründete er mit seinen Freunden Stanley Fisher und Stan Goodman die »No!art«-Kunstbewegung in New York. Sie einte die Ablehnung des kommerzialisierten Kunstbetriebs, sie waren gegen Pop-Art und abstrakten Expressionismus, die ab den 50er Jahren den »freien Westen« symbolisierten. Andy Warhol, Roy Lichtenstein und andere waren ihnen zu oberflächlich, konsumaffirmativ und »amerikanisch-chauvinistisch«. Das Gegenprogramm brachte Lurie später auf eine kurze Formel: »Pin-ups, Excrement, Protest, Jew-Art«. 1964 machten Lurie und Goodman in der Gertrude Stein Gallery in New York die »No!Sculptures«-Ausstellung, in der sie mit 21 Scheißhaufen dem Kunstbetrieb zeigen wollten, was sie von ihm hielten.
Sie waren gegen den kapitalistischen Konsumismus und gegen den US-Imperialismus. Lurie thematisierte Vietnamkrieg, Kuba-Krise, die Ermordung des kongolesischen Politikers Patrice Lumumba in wilden, großformatigen Collagen und expressiven Ölgemälden. Neben dem Davidstern als häufig wiederkehrendem Element fast immer dabei: pornographische Pin-ups, das Fleisch strammer Frauenkörper in aufreizenden Posen. In den 50ern hatte er damit begonnen, sie sich an den Wand zu heften. Es seien so viele geworden, dass er sich schließlich von ihnen geradezu beobachtet gefühlt habe, wie Lurie selber berichtet. Dann ließ er sie in seine Kunst, in der sie eine Konstante bilden. Provozierend wirkt die krasse Kombination der Pin-ups mit den ikonisch gewordenen Fotos aus dem Holocaust, von ausgemergelten Gestalten und Leichenbergen. Das war Luries Kritik am voyeuristischen Blick auf die Ermordeten. Luries Kunst ist radikal, roh, obszön, schmutzig und politisch – und bisher weitgehend unbekannt.
Der Medienraum der Ausstellung imitiert Luries Wohnung in New York. Fünf Filme geben Einblicke in sein Leben. Matthias Reichelt hat einen »Besuch bei Boris Lurie in Manhattan im April 2002« mit der Kamera dokumentiert. Er zeigt, dass diese Wohnung einer Höhle ähnelte. Sie war überfüllt mit Zeitungsausschnitten, Plakaten, Briefen, Notizen, Fotos und Dokumenten, alles vergilbt und zerfallend. »Eine Akkumulation von Zeit« nannte Lurie das. Nach dem Tod des Vaters 1964 war er reich, lebte von Aktienspekulationen und Immobilien. Doch seine Kunst fand keine Käufer. Er hielt sich einen deutschen Schäferhund namens Punch und verehrte Stalin, von dem ein lebensgroßes Plakat am Fußende seines Bettes im Krankenhaus hing, wo er 2008 starb: »Er hat mich aus dem Konzentrationslager befreit.«
So paradox wie seine Kunst war sein Leben, das er so auf den Punkt brachte: »Meine Sympathie ist mit der Maus, aber ich füttere die Katze.«
https://www.jungewelt.de/2016/03-30/050.php
Neues Deutschland | 04.04.2016
Manuela Lintl: Entsetzen, Abscheu, Unverständnis | Das Jüdische Museum und seine umfassende Retrospektive des NO!art-Künstlers Boris Lurie |1963 klebte Boris Lurie auf ein vergilbtes Zeitungsfoto von 1945, das in mehrere Schichten übereinandergelegte, nackte und ausgemergelte Leichen auf der offenen Ladefläche eines Lastautos zeigt, das Foto eines Pin-up-Girls in Rückenansicht. In erotisch aufgeladener Pose streift sich die junge Frau lasziv das Höschen vom Hintern. Die Reaktion auf diese »Railroad to America« betitelte Collage ist bis heute ungläubiges Entsetzen, Abscheu, Unverständnis. Wer sich dann nicht abwendet und aufgibt, sondern weiter schaut und nachdenkt, reagiert in beabsichtigter Weise. Denn die zynisch gestaltete Collage ist mehr als bloß ein obszöner Tabubruch. Die Drastik der Bildsprache ist vielmehr äußerstes Mittel zum Zweck und nur die Autorenschaft von Lurie als Überlebender des Holocaust legitimiert eine so unerträglich derbe Kombination von Pin-up-Girl und authentischem Pressefoto aus einem Konzentrationslager.
Fotografische Belege für den Holocaust, wie sie beispielsweise Lee Miller oder Magaret Bourke-White aufgenommen haben, wurden bereits im Frühjahr 1945 in amerikanischen Magazinen wie »Time Life« oder »Vogue« veröffentlicht. Reportagen über die Gräuel in den deutschen Arbeits- und Vernichtungslagern waren dabei flankiert von Klatsch, Mode oder Werbung. Der Direktor der Gedenkstätte Buchenwald fügt hinzu, dass Jew Art also nicht »interpretiert«, sondern »sie will, muss ertragen werden«. Auch deshalb wählte man für die Ausstellung den passenden Titel: »Keine Kompromisse!«
Lurie kam 1924 als jüngstes von drei Kindern jüdischer Eltern im damaligen Leningrad zur Welt und wuchs in Riga auf. Seine Großmutter, die Mutter, eine Schwester und Luries erste Jugendliebe wurden 1941 bei Massenerschießungen durch die SS umgebracht. Er selbst wurde zusammen mit seinem Vater 1945 aus dem Buchenwald-Außenlager bei Magdeburg befreit. Ein Jahr später wanderten beide in die USA aus. Obwohl Lurie in New York nicht wirklich heimisch wurde, blieb er zeitlebens dort (bis auf ein kurzes Intermezzo 1954/55 in Paris) und verstarb 2008 in seiner Wahlheimatstadt nach längerer Krankheit. Außer seiner Kunst hinterließ Lurie, der in den 1960er Jahren begonnen hatte, an der Börse zu spekulieren und Immobilien zu erwerben, ein Millionenerbe in dreistelliger Höhe. Dies erstaunt umso mehr, zumal Lurie selbst niemals Wohlstand zur Schau gestellt hat, sondern wie ein Bohemien lebte. Sein nahezu kompletter künstlerischer Nachlass – denn Lurie musste oder wollte keines seiner ca. 3000 Werke je verkaufen – wird seit 2009 von der »Boris Lurie Art Foundation« verwaltet, die auch die Ausstellung im Jüdischen Museum mit organisiert hat. Inwieweit die Stiftung nicht nur seine fragilen Werke zu erhalten und den Wert des Nachlasses posthum zu steigern versucht, sondern das Vermögen auch für die Förderung heutiger kritischer Künstler einsetzt, wie Lurie es gewollt hat, bleibt abzuwarten.
NO!art steht für eine engagierte und kritische Kunst, die sich gegen Markt, Museumsbetrieb, aktuelle Politik und Gesellschaft richtet.
Die 205 Werke der Retrospektive sind in 13 Kapiteln angeordnet. »Familie« etwa zeigt frühe Ölbilder und private Fotos zusammen mit den intimen »War Series«, Luries Erinnerungsskizzen an die Lagerzeit. Als Autodidakt hatte Boris Lurie seine produktivste Schaffenszeit zwischen 1950 und 1970. Frühe Ölbilder, die Szenen in Konzentrationslagern wiedergeben, zeigen Einflüsse von El Greco oder Ludwig Meidner. Auch die an Francis Bacon erinnernde Serie fragmentierter Frauenkörper der 1950er Jahre ist noch figurativ. Dann beginnt Lurie collageartig Bilder und Zeitungsausschnitte zu kombinieren und zu übermalen. Die Collagen und Assemblagen bekommen einen zunehmend politischen Duktus. Zusammen mit Sam Goodman übernahm er Ende der 1950er Jahre die March Gallery im damals heruntergekommenen Viertel der Lower East Side. 1959 riefen beide zusammen mit Stanley Fisher die NO!art Bewegung ins Leben. Das NO! Bedeutet nicht, wie Gertrud Koch im Katalogbeitrag behauptet, radikale Verneinung oder gar die Negierung der Kunst. Es steht vielmehr für eine engagierte und kritische Protestkunst, die sich gegen Kunstmarkt, Museumsbetrieb, aktuelle Politik und Gesellschaft richtet. Kunstintern wurde der Siegeszug der etablierten, marktkonformen Kunststile wie Abstrakter Expressionismus und Pop Art als unkritisch abgelehnt.
Bereits zu Lebzeiten schieden sich die Geister an Luries Kunst. Das blieb nicht folgenlos, auch für die Rezeption des NO!art-Künstlers. Im Gegensatz zu anderen radikal und politisch arbeitenden Künstlern seiner Zeit, wie etwa Wolf Vostell oder Jean- Jacques Lebel, suchte man Luries Namen bis vor wenigen Jahren in kunstgeschichtlichen Standardlexika noch vergeblich. Er war in diesem Sinne kein verkannter, sondern ein vom Kunstmarkt und Museumsbetrieb, den er ja unverblümt und harsch kritisierte, regelrecht boykottierter Künstler. Gemessen an seinem Lebenswerk liest sich seine Ausstellungsliste bescheiden. In Berlin war er bereits 1995 und 2004 im Haus am Kleistpark zu sehen sowie ebenfalls 1995 in der umfassenden NO!art-Ausstellung im Kreuzberger Kunstverein NGbK.
Dass seit Luries Tod 2008 die »Wiederauferstehung« seiner authentischen und unangepassten Kunst im Kontext der NO!art-Bewegung fast euphorisch gefeiert wird, mag man als Ironie der Geschichte oder verspätete Anerkennung deuten. Es zeigt aber auch die Perversität eines profitorientierten Kunstmarktes, der jede Gewinn versprechende Ware schluckt und zu Geld macht. Die Museen sind nur ein weiteres Rad in diesem Getriebe.
Brigitte Jähnigen: IM KONSUM GIBT ES KEINE WÜRDE | Ein umfassender Rückblick auf das Werk des US-amerikanischen Künstlers Boris Lurie im Jüdischen Museum Berlin | „Ich hätte gern angenehme Bilder gemacht, aber es hat mich immer etwas daran gehindert“, sagte der 2008 gestorbene Maler Boris Lurie einmal. Geprägt hat das Schaffen des Wortführers der NO!art-Bewegung das Erleben der Schrecken in den deutschen Konzentrationslagern.
NO!art hieß eine Kunstbewegung in den USA, die 1959 von Boris Lurie, Stanley Fisher und Sam Goodman gegründet wurde. Das radikale Nein der Künstlergruppe verstand sich als künstlerische Gegenposition zu Abstraktem Expressionismus und Pop-Art. Ihre Sujets nährten sich auch aus der Wut auf die kapitalistische Manipulation der Kultur. Fast zehn Jahre nach dem Tod von Boris Lurie 2008 zeigt das Jüdische Museum Berlin in einer großen Werkschau mehr als 200 Collagen, Zeichnungen, Gemälde, Assemblagen und Skulpturen des Künstlers, Literaten und Lyrikers. Titel: „Keine Kompromisse! Die Kunst des Boris Lurie“.
Boris Lurie schockt: Im Zentrum einer Collage klebt ein Foto von Lagerinsassen aus Buchenwald. Das Motiv der amerikanischen Fotojournalistin Margaret Bourke-White (1904–1971) vom April 1945 wird flankiert von Zeitungsausschnitten mit halbnackten Frauen. Datiert ist das Werk aus dem Jahr 1961, in der Berliner Ausstellung zu finden im Themenraum „Pin-ups“.
Ekel war wohl das dominante Gefühl, das Boris Lurie empfand, als er, der als Jude mehrere Arbeits- und Konzentrationslager überlebt hatte, 1946 aus Europa nach Amerika kam. Die Menschen im Konsumrausch, die Frauen wohlgenährt, und alle ahnungslos. Und als dann in den Tageszeitungen die ersten Fotos von Leichenbergen, ausgemergelten Häftlingen und SS-Mannschaften in triumphierenden Posen gedruckt wurden, waren sie – wie eine Ware – neben Werbung für Konsumartikel und Pin-ups platziert. In seinen „Anmerkungen zu Kunst, Leben und Politik“ schreibt Boris Lurie 1995: „In der Armut und im Kerker und in Niederlagen gibt es immer noch eine Würde, doch gibt es keine in diesem dicken Konsumentenglück.“
Bilder, in denen Boris Lurie das Sujet Frau thematisiert, wirken erotisch, wulstig, aber auch verstörend konfrontativ. Und schmerzhaft. „Railroad to America“ titelte er eine Collage auf Leinwand im Jahr 1963. Vor einem Leichenberg aus KZ-Häftlingen posiert ein Pin-up-Girl mit fast nacktem Hintern. Boris Luries Kommentar: „Schaut auf all jenes Gemetzel des Krieges! Und wir endeten mit nichts anderem als mit dem Hintern eines Pin-up-Girls.“
Frauen als Fragmente der Warenwelt – von dieser Wahrnehmung fühlte sich der Amerika- Neuling Boris Lurie provoziert. Er antwortete mit einer umfassenden Gegenprovokation, die in der Ausstellung nicht nur in der Serie „Pin-ups“ abgebildet ist. Auch auf Assemblagen der Bildserie „NO!“ verwendete er Fotografien und Zeitungsschnipsel mit halbnackten Frauenabbildungen, überpinselte sie mit Ölfarbe. Doch Luries „Girlies“ aus den 1960er Jahren waren auch Schattenbilder aus seiner Vergangenheit
Geboren wurde Boris Lurie am 18. Juli 1924 als jüngstes von drei Kindern des wohlhabenden Ehepaars Ilja und Schaina Lurje in Leningrad. 1925 übersiedelte die Familie nach Riga, hier wurde Boris Schüler im deutschsprachigen Gymnasium. Im Oktober und November 1941 wurden 30 000 Bürger Rigas in ein Ghetto gepfercht, im Dezember desselben Jahres Boris Luries Mutter, seine Großmutter, die Schwester Jeanna und seine Jugendliebe Ljuba beim Massaker von Rumbula ermordet. An nur drei Tagen wurden damals 27 500 Juden im Wald von Rumbula Opfer von Massenerschießungen. Im gleichen Jahr wurde Boris Lurie ins Arbeitslager Lenta, später in die Konzentrationslager Salaspils, Stutthof und Buchenwald deportiert. Er sagte: „Die Grundlagen meiner Kunst erwarb ich in KZs wie Buchenwald.“
Der Zyklus „War Series“ konfrontiert in der Ausstellung mit Luries Verfolgung und Lagerhaft. Später sagte Lurie: „Ich hätte gern angenehme Bilder gemacht, aber es hat mich immer etwas daran gehindert.“
1946 wanderte Boris Lurie gemeinsam mit seinem Vater nach Amerika aus. Er lebte in New York in sehr bescheidenen Verhältnissen auf der 66. Straße und sah sich „immer mit diesen fetten Frauen“ konfrontiert. Er besuchte Museen, lernte Kunstgeschichte, traf Gleichgesinnte im Umfeld der Galeristin Gertrude Stein. Nach seiner künstlerischen Entwicklung befragt, spricht er in einer Videodokumentation von einer „Erleuchtung“ – beim Betrachten eines Frauenporträts imaginierte er dessen Zerstückelung. Amerika muss so schockierend auf ihn gewirkt haben, dass Boris Lurie immer wieder vorhatte, das Land zu verlassen, mit Wort-Bild-Collagen nahm er Abschied. „Adieu Amerique“ heißt die Serie, besonders eindrucksvoll das Werk „NO With Mrs. Kennedy“. Lurie seziert die Ikone der Amerikaner als Teil seiner Kritik an der US-Politik. Doch Lurie blieb in den Staaten, gründete mit Stanly Fisher und Sam Goodman NO!art, stellte in der Yorker March Gallery, später auch in Deutschland, Italien und Israel aus.
„NO!art war als Anti-Pop-Art-Bewegung zu verstehen“, sagt Helmuth Braun. Boris Lurie habe die Bilder von Robert Rauschenberg, Andy Warhol und Roy Lichtenstein als „leer“ empfunden, zu sehr auf Kommerz ausgerichtet, so der Kurator der Berliner Ausstellung. Lurie habe sich radikal, weil konsequent dem Kunstmarkt und der Kunstkritik verweigert. „1964 gab es eine Kunstaktion bei Gertrude Stein, die Galeristin hat sehr viel von Boris Lurie gehalten“, sagt Braun. Auf 21 nachempfundenen Exkrementhaufen, getitelt als „Shit-Skulptur“, hatten Lurie und seine Künstlerkollegen Fähnchen mit den Namen bekannter Kunstkritiker gesteckt. Da er also von denen gemieden und sich nicht vom Verkauf seiner Werke nähren konnte, spekulierte Boris Lurie an der Börse. Für ihn sei das „eine Rache am Kapitalismus“ gewesen.
Als Holocaust-Opfer hat sich Boris Lurie nie empfunden. Sein Arbeiten richtete sich gegen eine „obszöne Gesellschaft“. Boris Lurie starb am 7. Januar 2008 in New York. Boris Luries Werk, das zeigt die Berliner Ausstellung, ist umfangreich, seine Persönlichkeit sehr komplex, die Aussagen sind hochaktuell.