PLOT : Als ich den Künstler Boris Lurie im Zwielicht eines Hausflurs in der 66. Straße, East, in New York erstmals sah, da war sie greifbar nahe, seine Sehnsucht nach Europa. Und als wir die Atelier-Wohnung betraten - diese atemberaubende Collage der Erinnerung - da war mir klar: Lurie hatte die Konzentrationslager, die er gemeinsam mit seinem Vater überlebte, mental niemals ganz verlassen. Das war im Oktober 1996. Es war der Beginn einer langen Freundschaft, an deren Anfang ein Film stand. Der Fluxus- und Happening-Künstler Wolf Vostell hatte mich in seiner bekannten Eindringlichkeit auf Luries verstörende Bildwerke aufmerksam gemacht: KZ-Häftlinge, Gespenstergestatten zwischen Lebenshoffnung und Gebrochenheit; umzingelt von Pin-up-Girls in eindeutigen Posen. Keine pornografische Laune des Künstlers, sondern Konzept, um den Zusammenhang zwischen Sex und Macht, Reichtum und Korruption aufzudecken. Boris Lurie hatte die Schönen und die Nackten, die Vergasten und die Entkommenen zu seinem, wenn auch nicht zum einzigen, künstlerischen Thema gemacht. Stets jonglierend auf des Messers Schneide im Minenfeld zwischen voyeuristischer Lust und purem Entsetzen. In Kunst und Leben hat er weder vor dem einen noch vor dem anderen kapituliert.
Dank der Boris Lurie Art Foundation und deren Direktorin Gertrude Stein - Boris' Galeristin und seine engste Vertraute - kann ich, zwanzig Jahre nach dem in Manhattan gedrehten Short-Movie, nun meinen fast einstündigen Film THE ART OF BORIS LURIE präsentieren. Einen Film, der zwar in Korrespondenz zur Retrospektive im Jüdischen Museum Berlin (JMB) 2016 steht, der aber geprägt ist von meinen zahlreichen Begegnungen mit Boris Lurie und seiner Kunst.
Meine Gesprächspartner im Film sind Cilly Kugelmann, Programmdirektorin des JMB, sowie Helmuth F. Braun, Kurator der Lurie-Ausstellung im JMB; Peter Weibel, Direktor des ZKM-Karlsruhe, Künstler und bekennender Boris-Lurie-Fan; der New Yorker Restaurator und Künstler Ron Morosan; der amerikanische Avantgarde-Filmer und Lurie-Freund Aldo Tam-bellini. Und natürlich Gertrude Stein und Boris Lurie...
Mein Film versteht sich als Dialog zwischen allen Beteiligten: Den Lebenden wie den Toten. Und in diesem Prozess der Rede und Widersprüche konnte und wollte ich nicht der Versuchung widerstehen, mir Luries Werk auch jenseits gängiger Interpretationen zu deuten. Bin ich doch der Überzeugung, dass nicht zuletzt riskante Ansichten und Meinungen den Diskurs über Kunst und Künstler vorantreiben.
Ich habe mich auf die Kunst des Künstlers konzentriert. Ist doch seine Kunst für mich der eigentliche Schlüssel zum Leben von Boris Lurie: 1924 in Leningrad geboren. 2008 in New York City gestorben. In Israel begraben.



Gertrude Stein:
STATEMENT zu BORIS LURIE
im Video von Rudij Bergman (2016)

Exzerpt aus: Rudij Bergmann, Die Kunst des Boris Lurie, Filmdokumentation, New York/Berlin 2015
Boris war ein sehr sensibler Mensch, sehr mit fühlend, sehr eigensinnig, sehr intelligent, sehr kreativ, und er konnte zornig werden, wenn ihm etwas verwehrt wurde
Wenn jemand für ihn wie ein Antisemit oder anti-israelisch wirkte, regte ihn das sehr auf, und zu einigen Menschen brach er sogar den Kontakt ab, weil er einer ganz anderen Meinung war, an der er konsequent festhielt.
Er las viel, liebte russische Musik und russischen Tanz. Er fühlte sich mehr russisch als alles andere, obwohl er sein ganzes Leben in Lettland verbracht hatte. Zumindest die ersten sechzehn Jahre, mit sechzehn wurde er in ein KZ gesteckt.
Er hatte den Holocaust miterlebt, doch der machte ihn nicht zum Künstler. Er war schon Künstler, bevor er in Gefangenschaft geriet.
In gewisser Weise war das wichtiger als der Holocaust selbst: Die Kunst wurde geschaffen, um die Erinnerung daran zu wahren, was Menschen einander antun können und wie es in der Zukunft vermieden werden kann.
Er war kein Maler wie Chagall, der hübsche Bilder für die Leute malte. Er wollte etwas aussagen. Mit jedem Bild machte er ein Statement.
Er war Brillant in der Art und Weise, wie er die Kunstwelt und die Politik analysierte, darin stimmte ich vollkommen mit ihm überein
Ich liebte seine Arbeit, ich fand sie wundervoll ... nir schien es, als sei es genau das, was ich hätte machen können, wenn ich mit der Malerei weitergemacht hätte.
Er war ein sehr guter Makler und überhaupt ein sehr guter Künstler und Kunstgelehrter, er verstand die Geschichte der Kunst.
Seine Arbeiten waren sehr, sehr kreativ. An dem Tag, als ich ihn zum ersten Mal traf, ging ich in sein Studio und war überwältigt von seiner Arbeit und entschied mich eine Galerie zu eröffnen.
Eine Galerie für bedeutende Persönlichkeiten, die das damals herrschende Kunstsystem und die Kunstgeschichte ablehnten. Ich war sehr konfrontativ. Immer.
Zur damaligen Zeit machten alle Abstrakten Expressionismus, de Kooning, Kline und Pollock, all diese Leute und die Künstler, die ich kannte, und sie waren durch einige der Kuratoren und Kritiker sehr bekannt geworden.
Manche von ihnen waren mit Boris befreundet und Boris stand ihnen sehr nahe. Er mochte sie sehr.
Doch als die Pop-Art auf der Bildfläche erschien, regte ihn das sehr auf und er war sehr wütend, dass diese Kunstbewegung der Kunst so viel Glaubwürdigkeit entzog.
Er hasste die Pop-Art-Künstler, er fand wirklich, dass sie die Kunst in Amerika zerstört hatten. Doch er war mit einigen befreundet, nicht mit Warhol, aber er war Menschen wie Claes Oldenburg gegenüber freundlich gesonnen und sie ihm gegenüber.
Und sie kamen, um sich die „Shit Show“ anzusehen ... alle kamen, um die „Shit Show“ zu sehen.
Sie waren verblüfft von dieser Ausstellung, alle wurden davon angezogen. Eine Frau fiel dort in Ohnmacht, sie sagte, der Gestank sei unerträglich.
Wir gaben allen Skulpturen Namen von Kunsthändlern. Wir stellten vor jede Skulptur das Namensschild eines Händlers [Anmerkung: Diese Namensschilder hat es nie gegeben und sind bei der Restaurierung 2001 auch nicht von Boris Lurie erwähnt worden.]. Wir wollten es ihnen zurückzahlen, denn all diese Kunsthändler verkauften Pop-Art!
Wir hatten nichts zu verlieren, die Kunsthändler interessierten sich nicht für unsere Arbeit. Die Kunstinteressierten kamen trotzdem. Doch es war uns nicht möglich, irgendetwas zu verkaufen. Niemals.
Er war weit davon entfernt, ein Pornograph zu sein. Er fing mit der Verwendung von Pin-ups an, als er mit einem gebrochenen Fuß im Bett lag. Er hatte all diese Zeitschriften mit Mädchen drin.
Er fand, dass es sehr schädlich war für Frauen war, auf so schreckliche Weise dargestellt zu werden ... Also schnitt er die Bilder aus, klebte sie auf.
Er setzte dann Fotos von Holocaust-Opfern daneben. Dadurch wurde es zu einem Statement über den Holocaust. Und darüber, was den Frauen in seinem Leben widerfahren war – und über die Art und Weise, wie Frauen behandelt werden.
Er war sehr frauenfreundlich. Das war er wirklich.
Das war er ... er war mit seiner Mutter und seiner Schwester dort gewesen mit all den Menschen ... warum hatte er überlebt und sie nicht? [Anmerkung: siehe dazu: Kugler, Anita: Scherwitz, Der jüdische SS-Offizier, Köln 2004]
Diese Schuld trug er immer mit sich und er wollte sein Bestes tun und über das Geschehen einen Bericht hinterlassen. Seine Kunst war dieser Bericht. [Anmerkung: Siehe dazu besonders: Lurie, Boris und Krim, Seymour: NO!at, Köln 1988, dort S. 124, „Neuerungen in der Ästhetik, der Herstellung und im Material ... und auch: Geschriebigtes/Gedichtigtes; Weimar-Buchenwald 2003]
Er mochte die Deutschen, er hat nie geglaubt, dass Deutschland an sich schlecht sei. Er wusste mit dem Holocaust war eine furchtbare Sache passiert. Und er wollte sein Leben einfach weiterleben.
Aber seine Mutter und seine Schwester vergaß er nie, sie waren ihm so wichtig wie die Luft, die er atmete ... Und in dem Portrait seiner Mutter kommen all diese Gefühle zum Vorschein.
Er sagte zu mir: „Gertrude, wenn ich kein Geld für die Erhaltung meiner Bilder hinterlasse, ist es, als hätte ich nie gelebt“. Und es war ihm sehr wichtig, dass die NO!art-Bewegung weiterlebt.
Deswegen hat er all das Geld verdient. Er versuchte, genug zu verdienen, um das alles schützen zu können.
Er lebte, als wäre er in einem KZ. Seine Wohnungen und sein Atelier waren immer schwarz: Mit einer Badewanne in der Küche, der Toilette draußen ... und da war immer dieses „KZ-Gefühl“. Die ganze Atmosphäre war wie in einem Theater.
Er durchlebte es sein Leben lang, immer von Neuem.
In der Dunkelheit und während der Nacht war er im KZ geschützt. Am Tag bestand natürlich die Möglichkeit, dass sie ihn wegen irgendetwas schnappen würden. Aber nachts taten sie das nicht.
Der Tag war also furchterregend und die Nacht war sicher. Das war sein Leben.
Wir waren immer zusammen, er benutzte mich, er malte mich, fotografierte mich immerzu. Ich war Teil seiner Kunst.
Wir sahen oder sprachen einander jeden Tag. Sogar wenn ich reiste oder er reiste, blieben wir in Verbindung. Wir waren uns immer sehr nah, und er benutzte mich für viele seiner Bilder.
Ich tat, was immer er sagte, da war für mich kein Gefühl von Peinlichkeit oder sonst etwas.
Ich glaubte an ihn.
Ich glaubte an NO!art und daran, was er aussagen wollte, aber es war unmöglich, dafür einen Markt zu schaffen. [Anmerkung: Boris' Meinung war: Alles, was verkauft wird, geht verloren! Er kaufte sogar Bilder wieder zurück!]



Über Rudij Bergmann: Der Muse(e)nfreund. Hektisch ist er nicht, der 1943 im Rheinland geborene Filmemacher und Kunstliebhaber Rudij Bergmann, wie man es von einem echten Fernsehmann erwartet hätte. Und er hat so viel zu erzählen, dass es schwierig ist, in seinen umtriebigen Gedankenfluß ein wenig Stringenz zu bringen. Über seine Jugend und Schulzeit schweigt sich der Autor beeindruckender Künstlerdokus zunächst aus. Erst nach Abschluss der Schule scheint es interessant geworden zu sein. Denn Bergmann wollte Schriftsteller werden, und veröffentlichte Gedichtbände. Seine eigentliche Liebe aber galt damals der Politik. Sein Engagement war so stark, dass er selber es als sein „ alter ego“ bezeichnet und das auch der Grund ist, warum er aus der Heimat später in den Südwesten zog. Und er vertrieb er sich die Zeit als Weltenbummler und Bohemien in Köln. „Ich wollte immer Dichter sein“, erklärt Bergmann, daher verkehrte er vorzugsweise in Künstlerkreisen, war aber zwischendurch auch einmal für drei Tage Filialleiter eines Feinkostgeschäftes. Sogar in dunklen rauchigen Jazzkellern spielte er Freejazz auf seinem Saxophon, - „ich führe noch immer ein ZickZackleben“. Durch sein Elternhaus erfuhr er eine gewisse politische Vorbildung, die das Kind Rudij Bergmann durch das Studium der Stücke Camus erweiterte. Die Bühne hat ihn weitergebildet. | INFO: http://kulturportal-rn.de/seite/rudij-bergmann/