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DER FLUCH ARBEITET 1972-73
Die folgende Einleitung ist
ein wesentlicher Bestandteil
der Ausstellung und ist gleichzeitig
als Ausstellungsstück anzusehen.

[Nach dem Tod seines Vaters im Juni 1964 — es fand gerade die NO-Sculpture Ausstellung (Shit-Show) statt — stellte Boris Lurie elf Jahre lang nicht mehr in New York aus. Er machte jedoch drei Einzelausstellungen in Europa.]

Darüber sind wir uns wohl im klaren: Nichts ist schrecklicher oder uncooler, als wenn der Künstler selbst die erklärende Einleitung schreibt. Das ist Eindringen in das heilige Reich der Kritiker. Man erwartet und bevorzugt es, wenn der Künstler nicht mitteilsam ist und sich als Kreatur zeigt, die einer Artikulation unfähig ist. Investoren, Händler und Sammler ziehen das vor. Der Künstler grunzt lediglich als Antwort auf gestellte Fragen. Das ist cool. Unverständliches Grunzen ist eine ausgezeichnete Verkaufstaktik. Mystifikation ist das beste Verkaufsmittel. Wenn Künstler grunzen, dann sind die Kritiken widersprüchlich und das Geschäft läuft gut. Genau deshalb schrieb ich diese explizite Einleitung.

Die Aufgabe des Künstlers ist nicht nur die Kreation von Kunstwerken, die der allgemeinen Gefälligkeit widersprechen. Er muss vielmehr, soweit er kann, definieren, propagieren und verteidigen. Auf jede mögliche Art und Weise. Kunstwerke und Kommunikation. Das ist der einzige gültige Grund für seine Künstlerexistenz.

Juni 1964: Die Shit-Show in der Gertrude Stein Galerie. Das Ende der NO!Künstler als Kollektiv. Unterdrückung durch den Kunstmarkt. Der Boykott der NO!art bringt die erwarteten Früchte. Boris Luries Vater stirbt. Dann stirbt Sam Goodman. Stanley Fisher verwickelt sich in esoterische Anti-Kultur. Dann vier Jahre später, und zwar 1968: kulturelle Konfrontation, weltweiter Protest. Ausgebrochen neun Jahre, nachdem die NO!Künstler ihren Kampf begannen mit öffentlichen Ausstellungen wie "Les Lions" und "Adieu Amérique" im Jahre 1960.

In ungefähr zehn Jahren: Säuberung der New Yorker Kunstszene von der Sklavenkünstlergeneration, die doch immer dem Kunstmarkt linientreu gewesen ist. Ausgelöscht. In Zwangspension geschickt. Ein üblicher Geschäftsvorgang. Aber NO!art überlebt! Ohne den Kunstmarkt!

Die Einheitsfront wird von der "Frauenbewegung" gespalten. Männer werden nun von Frauen getrennt. Vom Kunstmarkt ignorierte Frauen versuchen, das Kunst-Establishment zu knacken. Einige ehrliche Aktionen, Demonstrationen, Ablehnung des Kunstmarktes, jedoch verdorben durch einen nach Publizität heischenden Exhibitionismus. Fernsehkameras sind für anarcho-napoleonische Persönlichkeiten unwiderstehlich. Guerilla-Art-Aktions-Gruppe.

In der Zwischenzeit: Kunstaktivität scheint wirkungslos zu sein. Echte Kunstaktionen scheinen auf der Straße stattzufinden. Im Dschungel oder bei Che Guevara, stimmt das? Ist diese welterschütternde sozialpolitische Konfrontation nicht wenigsten zum Teil aus früheren Kunstaktivitäten hervorgegangen? Einige nicht allzu gescheite Künstler verwerfen jegliche Objektkunst. Alle Kunst, so sagen sie, einschließlich revolutionärer Kunst, wird zur Ware. Sie übersahen: a) das persönliche psychische Bedürfnis des Künstlers, sich ausdrücken zu wollen; b) das Bedürfnis des kollektiven künstlerisch-"rassisch" Unbewussten nach Grübeln, Brodeln, nachzeugenden Aktivitäten, nach gegenseitiger Befruchtung, und c)übersahen sie auch die historische Tatsache, dass echte revolutionäre Kunst nie den Markt betritt. Es sei denn viel später, als harmloses Souvenir. Wirklich, man kann sagen, dass es für echte Kunst unter heutigen Bedingungen notwendig ist, sich nicht auf den Kunstmarkt einzulassen und nicht von ihm anerkannt zu werden. Das ist der Test heutzutage.

Gutgläubige Menschen lehnen jegliche Objektkunst ab, glauben nur noch an Kunst-Demonstrationen und Theater-Happenings. Sie vergessen dabei, dass diese Formen genauso käuflich und verkäuflich sind wie Objekte. Genauso vermarktbar wie Anti-Kultur-Attitüden, Rock, Wohlgerüche und sexuelle Befreiung. Also: Ob Objekt oder Aktionen, was zählt ist Qualität, Inhalt. Egal, ob riesig groß oder winzig klein, ob Objekt oder Konzept.

Inzwischen verfolgen zeitgenössische Kritiker wie Harold Rosenberg, John Berger, usw. Ideen, die früher von Walter Benjamin usw. ausgearbeitet wurden. Und veröffentlichen längst überfällige historische Neubewertungen von Ästhetik, geerbt von modernen Pionieren. Zu der Zeit hatte Ästhetik vielleicht einen positiven Wert. Besagte Ästhetik ist jetzt tot, aber immer noch ein brauchbares Werkzeug, jungen Leuten den Kopf zu verdrehen, ein ständiges Angebot an Dekoration, genannt Kunst, zu sichern, um so den Status-quo nicht zu stören. Kunst, die nur für die Käufer-Klasse gemacht wurde. Die Technik der Kunstmarktmanipulation und -Organisation wird tatsachengetreu in New Yorker Magazinartikeln analysiert. Es sind dies die New Yorker Kunst-und-Dollar-Bücher wie das von Jean Gimpel "Contre L'Art et les Artistes". Der Satiriker Tom Wolfe dringt durch die Oberfläche der Kunstwelt und zerfetzt sie wohlwollend in Geschichten wie "Bob and Spike (Pumphouse Gang)". Überall die Scull Popart-Investitionsbande. Es tut mir leid, sagen zu müssen, dass diese jüdische Gang genau den Arschgegenpol zu den Warschauer Ghetto-Kämpfern darstellte. Das Arschende von Masada, damals und heute. Irgendjemand hat sich bei diesen verdammten, gierigen Kunst-Kultur-Manipulatoren, diesen Künstler-Blut-Händlern an einen jungen Beatnik-Künstler erinnert. Das ist noch nicht so lange her. Man nannte ihn Adolf Hitler. Seine Karriere hätte anders aussehen können. Ja, wenn ... eine andere Clique, zu einer anderen Zeit ... Er hätte sich dann nicht über ganz Europa ausbreiten müssen. Mit seinen Meister-kunstwerken nach dem wirklichen Leben.

1975: In den USA sind außer den sogenannten "Female Artists"-Aktivitäten alle offenen Kultur-Konfrontationen am Ende. Aufgrund innerer Schwäche. Das Sterben der Neuen Linken. Aufgrund eines infra-rassistischen Antagonismus. Als Folge der Frauen-Befreiungsbewegung. Aufgrund von Antisemitismus der Alten und der Neuen Linken, jetzt bequemerweise Anti-Zionismus oder Anti-lsraelismus genannt. Am Ende des Vietnamkrieges können sich die Middleclass Kids ausruhen und die Rockefeller Kids sowieso. Die Marihuana-Revolution hat keine Anziehungskraft mehr.

Ware, die auf dem Kunstmarkt überlebt: a) dekorative, regressive Greenberg-Abstraktionen, flach, seriell, plastisch; b) diverse Erbrochenes von Opa DADA, marktgerecht aufbereitet, als da sind Konzept-Kunst, Videotapes, Events, usw., und nicht zu vergessen, die Happenings, c)interessante Earth-Art, ausgezeichnet Idee, endlich die Galerien und Museen zu verlassen, aber bitte ... ohne verbrauchte Klischee-Formalismen ... ohne DADA-Chic; d) "Body Examination" , meistens pathetisch und langweilig, mit einigen wenigen Ausnahmen. All diese überlebten Strömungen und Abläufe, diese Revivals. Sie finden im Rahmen des Kunstmarktes statt. Alleinig eingestellt auf Investoren, auf diese emotional verarmten, isoliert und beschützten "Culturati" . Anstatt diese echt Zu-kurz-gekommenen aufzuwecken. Diese Revival-Min i-Bewegungen bestätigen nur ihre Isolierung und Versnobtheit. Sie liefern Mystifikationen und schicke Spiele. Ein paar Monate Arbeit, auf dem Acker, in Fabriken, wie Onkel Mao weise predigt. Oder alle sollen mal in der Army dienen. Das würde zu künstlerisch und psychologisch viel fruchtbareren Ergebnissen führen.

Sogenannte Pop-art, dem Erzfeind der NO!art. Wird heute endlich zunehmend als total reaktionär erkannt. Nur gedient zu haben. Energien aus der Kultur-Konfrontation geschöpft zu haben. Bis hin zur Verherrlichung der hässlichen Umwelt. Mit Campus-Gekicher zur passiven Akzeptanz geführt.

Inzwischen ist es 1974 geworden. Aufgrund der Rezession und des kürzlichen Börsenzusammenbruchs (derzeit scheinbar erholt) erscheinen erste vorsichtige Anzeichen. Ein beachtlicher Preissturz auf dem Kunstmarkt geht voraus. Es besteht die reale Möglichkeit eines Kunstmarkt- Preis-Zusammenbruchs. Und dann die ästhetische Neuorientierung. Und dann das Zurückgehen auf verschiedene New Yorker Nachkriegsfabrikationen. Vielleicht bis Picasso zurück, oder bis Cezanne. Alles längst überfällig. Endlich unvermeidlich.

Währenddessen die Lage in Europa: Das Kunstsystem ist dort viel weniger monopolisiert. Dagegen in US: Das Monopol wird von Investoren, Treuhändern, Museen, Galerien und der Presse bestimmt. Art Business in Europa wie in den USA. Aber in Europa sind die Museen städtisch, kein Treuhändersystem. Nationaler und lokaler Wettbewerb. Gesellschaftlich respektable reiche linke Parteien. Radikale Inhalte werden eher von der gebildeten und zum Teil alten Oberschicht akzeptiert. Die Konfrontationskunst hat dort Chancen. Sie kulminiert zwar manchmal in kunstpolitischen beknackten DADA-Spielereien, so z. B. in Deutschland. Der Inhalt der Kunstkonfrontation deshalb manchmal etwas zweifelhaft. Die Neue Linke managet das Pariser Museum für Moderne Kunst (A.R.C.) ... Stellt New Yorker Popkünstler aus ... als bonafide Beispiele für revolutionäre Kunst! Später bereuen sie es. Die Publicity des Kunstmarktes führt unweigerlich in die Irre, führt auf falsche Wege, erzieht falsch. Dennoch, entscheidende Werke werden öffentlich in Deutschland, Italien und Frankreich gefordert und in Österreich ist schon etwas entstanden. Einige Künstler in Europa entwickeln schon soziologische Kunst: sachliche Analyse der Gesellschaft angesichts der Kunst.

Das Ende der Vorherrschaft des New Yorker Kunstmarktes.

1973-74. Boris Lurie stellt in Europa aus. In Berlin bei Rene Block "NO!art seit 1959". In Westdeutschland in Bochum bei Inge Baecker, "Boris Lurie bei Inge Baecker" (hauptsächlich die Serien "Altered Men"). In Italien, in Mailand bei Giancarlo Bocchi mit in Wachs eingeschmolzenen Pinupbildern. Harold Rosenbergs Einführung zum Katalog mit seinem Beitrag "Den Stier bei den Hörnern packen". Berlin ist ein besonderes Erlebnis. 28 Jahre nach seiner Befreiung aus dem KZ Buchenwald. Das liegt in der Nähe von Berlin. Jedes der ausgebombten Gebäude dort erinnert an Verstecke flüchtender Häftlinge. Die NO!art kommt zurück zu ihrer ursprünglichen Quelle, minus dem Erlebnis Amerika. Holocaust: Die Erfahrung der Juden. Noch lebendig im zerstörten geteilten Berlin. Der Führerbunker ist jetzt ein Kunstwerk: Kinder spielen im Unkraut, das ihn überwuchert. Dann der Trip nach Paris. Versuch, den Konfrontations-Philosophen Jean-Paul Sartre zwecks NO!art Buchpublikation zu treffen. Der Existenzialistenvater ist unerreichbar, sein Sekretär macht Versprechungen. Ne Dame von einem berühmten Linken Verlagshaus erklärt unser Interview als großen Irrtum: Sie verwechselte mich mit einem Latein-Amerikaner. Die Linken Kreise haben New York als uninteressant aufgegeben. Vielleicht zurecht? Erlesenes Abendessen bei Renato Gutuso.

Abscheu bei den ernsthaft Denkenden, jedoch nicht von der Art "Trau-keinem-über-dreißig", sondern tiefe Abscheu vor den Unzulänglichkeiten der liberalen Popzivilisation. Das lässt die Menschen bis ins Innerste verzweifeln und bringt sie in fanatische Versuchungen. Rein nationalistische Bewegungen in der "Dritten Welt" werden von ihnen als "revolutionär" angesehen. Und sie liebäugeln passiv oder aktiv mit dem Terrorismus. Die unterdrückten Minderheiten "verehren" sie auf geradezu fanatisch masochistische Weise.

Dabei vergessen sie oft, dass sie selbst zu den Minderheiten gehören oder gar vielleicht selbst noch Juden sind, die durch Zufall den Verbrennungsöfen entgangen sind (Sind nicht alle amerikanischen Juden solche Zufälle?), und sie vergessen dabei auch, dass sie in irgendeiner Form selbst Opfer des Rassismus sind. Das haben sie nun davon: Die weißen Linksradikalen müssen sich nun selbst den "revolutionären" Minderheiten beugen. Der Rassismus trifft jetzt alle Weißen. Die Linksradikalen, die die rassistische Haltung der Minderheiten unterstützen, sind für die Poor Whites (die armen Weißen?, d.U.) in den Mixed Areas untragbar und undenkbar geworden. Intellektuelle und Künstler fliehen schon aus East Village. Das drohende Messer im Hausflur wirkt auf sie überzeugender als die Theorien von Marcuse und Marx.

Angela Davis, Marcuse Schützling, kehrt aus der Sowjetunion zurück mit der Bemerkung: "Die Sowjetregierung ist nicht antisemitisch." Das Messer im dunklen Hauseingang ist die beste Methode, um diese Rebellen wieder zurück ins Establishment zu verfrachten. Wir sind alle mitten im Rassenkrieg. Der alte schwarze Freund ist nicht mehr derselbe Freund wie ehemals. Die TIMES predigt in Leitartikeln über die Ursachen der Gewalt und schiebt gleichzeitig einen Mord an einem Candystore-Besitzer, einem Emigranten, als nicht weiter beachtenswert beiseite.

Die Linksradikalsten sitzen jetzt zwischen den Reichsten (siehe Tom Wolfes Buch "Radical Chic"). In ihren Ghettos haben die Weißen andere Gefühle. Fühlen sich aber wie alle Minderheiten in ihrer Haut nicht wohl. Wir sind mitten drin in der "revolutionären" Gewalt. Oder soll das schon das Ende sein? Nixon trifft Mao. Sie schütteln sich die Hände (Ribbentrop und Molotow, 1939, der Nazi-Sowjet-Pakt?). Zieht den amerikanischen Linksradikalen doch den Boden unter den Füßen weg. Vietnam usw. usw. ist dem Onkel (Amerika, d.U.) wichtiger als eine kulturelle Revolution!

Zwei Polizisten sind in der Avenue B und in der 11ten Straße hinterrücks ermordet worden. Die Zeitungen der Neuen Linken jubeln. Allerdings sind die Polizisten in den Ghettos wieder ganz willkommen. Die Intellektuellen hinken den Tatsachen etwas hinterher. Die Art Workers Coalition, von Juden unterwandert, stellt jetzt Plakate von AI Fatah aus mit antisemitischem und antiisraelischen Inhalt aus. Wenn irgendwer von den Minderheiten auch nur einen Furz abäßt, kriegen die Neuen Linksradikalen und die Ladies von der Frauen-Befreiungsbewegung gleich einen Orgasmus, besonders auch wenn nur der Name des Superstars Eldridge Cleaver fällt: Peace and Freedom Party Arts Club, Art Workers Coalition.

Boris Lurie wird zur Pariser Ausstellung der Neuen Linken eingeladen. Die Show wurde von Konfrontationskünstler unter dem Thema "Aspekte des Rassismus" organisiert. Er schickt zwei Bilder hin, und zwar mit den Titeln "Lang lebe AI Fatah - Tod den Saujuden" und "Antizionismus ist gleich Rassismus". Sie werden aufgrund der Abstimmung des Kollektivs der ausstellenden Künstler nicht gezeigt. Und dieselben Konfrontationskünstler jammern und klagen über die Zensierung durch's Establishment. Doch ihre eigene Zensur an von ihnen nicht gut geheißenen Konfrontationen finden sie O.K.

Die Grenzen verlaufen sehr feinsinnig. Der Jude ist schlecht, der Araber der Engel und Israel des Teufels. Das ist den Europäern willkommen. So können sie ihre überkommene und angestaute Kollektivschuld gut über Bord werfen, und zwar nicht nur die Deutschen, sondern auch die Franzosen und Italiener. Nicht aber die Holländer. Wie bequem. Endlich kann man das ganze trickreiche Manöver aufgeben, die gesamte Schuld den Deutschen aufzubürden. Die Araber haben so die Europäer endlich von aller verbleibenden Schuld befreit! Und das ungefähr 15 Jahre nach Jewtuschenkos "Baby Yar" und etwa 30 Jahre nach dem faschistischen Morden.

In Russland sind die Massengräber immer noch nicht gekennzeichnet. Es sind immer noch Müllhalden oder Parks. Der alte Judenfriedhof im Rigaer Ghetto ist jetzt so ein Park. Die pathologischen mächtigen Sowjets. Sie fürchten sich vor den übriggebliebenen Knochen, nennen nicht die Orte der Massengräber. So ist es. Die Kommunistische Partei kämpft unnachgiebig gegen die Toten, zu denen auch Boris Luries Mutter, Schwester, Großmutter, Geliebte und Jugendfreunde gehören. Der Schwarzen-Führer Carmichael sagt, Hitler sei der Größte, natürlich während seines New York Besuches.

Zwei Wege stehen der besiegten Armee der 60er Jahre offen. Entweder sich kopfüber in selbstmörderische sinnlos verzweifelte Gewalt reinzustürzen, oder sich dem einflussreichen liberalen Establishment anzuschließen. Letzteres vielleicht vorübergehend oder so? Der Rechtsruck kommt bestimmt. Die Anzeichen sind auf der ganzen Linie erkennbar. Doch was ist inzwischen: Mao schüttelt Nixon schon wieder die Hände und Ford schüttelt Breschnew die Hände. Das ist man gewöhnt. Castro, der sowjetische Satellit, ist jetzt bereit, jedem die Hand zu schütteln. Der U.S.-Mao deckt das Bangladesch Gemetzel und Dr. Kissinger, verantwortlich für den Ausverkauf seiner vietnamesischen Kumpel und Nobelpreisträger, protzt nicht mit seinem gelben Flüchtlings-Davidsstern, während er dabei ist, Israel zu zerstückeln. Allende bricht heroisch zusammen. Und auf der Piazza del Duomo in Mailand finden riesige Demonstrationen der Alten und Neuen Linken statt. Die Demonstranten, alles Studenten und Intellektuelle, rufen den Slogan: Viet Cong - AI Fatah! Ihr kriecht ganz schön, meine italienischen Freunde!

Was nun? Der Sturz kopfüber in die Passivität. Zurück in die Isolation der 50er Jahre. Zurück in die Kultur, deren Wahrheit sich in der Pornographie ausdrückte: Hart, hässlich, schmutzig, ekelhaft. Die Verzweiflung, die Enttäuschung und die Gewalt nach unten verschieben, in die erotischen Zonen. Sadomasochismus in der Öffentlichkeit, praktiziert, um die Niederlage und die Schuldgefühle zu mildern.

Aber einem vom Schwarzen Rassismus und Linken Antisemitismus erweckten Juden erscheint eine zweite Vision, tut sich ein zweiter Weg auf. Er hat seinen Kopf schon hart genug eingeschlagen bekommen. Er lernt, sie wiederzuerkennen in Israels Child-Warriors, die sechs Millionen zum Untergang verdammten. Er sieht ihre gewaltige Wiederaufstehung in der Wiedergeburt zu erneuter Untertänigkeit.

Unterdessen in New York: Die Geburt von SoHo, das Wiederbelebenwollen der Produktionsgemeinschaften. In der 10ten Straße werden Superlofts zu Superpreisen an die jungen Künstler vermietet, um die neue "Avantgarde" abzulinken, werden hier aus Kunsthandwerkern freie Arbeitspoole rekrutiert, die für jeden Preis was machen, notfalls umsonst. Es gibt keine Gewerkschaften. Die Jungen Genies machen alles, machen alle verlangten Stilrichtungen, nur, um für jeden Preis auf den Markt zu kommen. Und SoHo erfüllt neben der Funktion eines freien Arbeitspools noch die Funktion von erfolgreichen Immobilienmarktoperationen. Die heruntergekommene Gegend wird aufgewertet, indem man Künstler nur vorübergehend rein lässt und sie dann später wieder rausschmeißt.

Gleichzeitig wird an Universitätskunstschulen empfänglichen Gemütern eingetrichtert, wie man mieseste Fabrikationen auf dem Kunstmarkt zu kunsthistorischer Größe aufwertet. Eine Fehlerziehung der jungen Leute. Die kommenden Jahre werden dadurch mit immer größeren Haufen von Abfallprodukten überschwemmt. Die Museen werden zu blühenden Cafeterias und zu Rendezvous-Lokalen. Den Kunstdealern wirft man gelegentlich fette Brocken zu. Der Kuhhandel blüht, einen Van-Gogh-Rousseau gegen einen Diebenkorn-Smith. Der Staatsanwalt fängt schon an, die Stirn zu runzeln.

Künstler sind Bestien, die nur auf Kommunikation aus sind. Langes Schweigen macht sie krank und impotent. Auf dem New Yorker Haifischmarkt kommunizieren zu wollen, ist künstlerischer Selbstmord. Was ist denn mit den Popart-Geniussen vom vergangenen Jahr los? Sind sie immer noch am Ball? Kommen sie immer noch mit neuen Kunstfertigkeiten raus? Wie können sie das schaffen, wo doch ihre Lebensdauer als Genie auf höchstens fünf Jahre programmiert ist? Das ganze System kann man zu Recht nicht mehr länger ernst nehmen, denn das ganze Kunstsystem ist nur ein Dollarbefriedigungssystem. Nichts gegen Dollars. Jedoch Dollars alleine schaffen unglücklicherweise noch keine Kunst. Scherz beiseite: Kunst ist wirkliches Dasein, ohne falsche Duchampesken, ohne Kunstmarkt und ohne Professoren und Spekulanten. Wo könnte ein Künstler in New York denn nun kommunizieren können? In SoHo hieße, einen Schwindel unterstützen. Dort auszustellen , wäre peripheres Entertainement und diente letztendlich nur der Legitimation des dortigen Kunstkombinats. Oder in Ghettoslums, beim "gewöhnlichen Volk"? Das wäre praktisch unmöglich. Dort ist die Szene geprägt von Rassenhass, Betrügereien und Drogenwahnsinn. Oder in ländlichen Kommunen? Das hieße, zu den Bauern gehen. Oder in Colleges???

New York hat seine große Chance verpaßt. Es hat sein Kunst-Monopoly jetzt ausgespielt. Große Werke großartiger Künstler können jetzt ebenso in Oshkosh, Paris, New York, Timbuktu oder Beer-Sheba entstehen.

Wie sollte die Arbeit eines Künstlers aussehen, der nicht der Gefallsucht frönen will? Lest bei Engels nach. Bunuel sagt, wenn man den Status quo stört, ihn aus dem Gleichgewicht bringt. Und Majakowski meint: "Kunst ist kein Spiegel, in dem die Welt reflektiert wird, sondern ist ein Hammer, der sie formt." Welche Definition man auch vorzieht, die Kanäle des Kunstestablishments sind auf keinen Fall die geeigneten Medien für Kommunikation, weil sie nicht funktionieren. Wertvoller Stoff, der unglücklicherweise in diesen Fleischwolf gerät, dient nur der allgemeinen Vernebelung dieser grundlegenden Wahrheit hier. Das ist, den Leithammel zur Schlachtbank führen. Das sind nur Tranquilizer. Wirklich gültiges Zeug dient ihnen nur dazu, den ganzen Unrat, der vermarktet wird, mit einem Gütesiegel zu versehen. Z.B. Francis Bacon legitimiert den ganzen Unrat und rechtfertigt sich damit, keine radikale Kunst vermarkten zu wollen. Also dann ist es doch besser, selbständig zu agieren, selbst die Basis zu schaffen, selbst die Kanonen zu laden, um sie aus dem Hinterhalt abfeuern zu können, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt. Ja, befestigte Stützpunkte aufbauen und weglaufen, wenn sich die Stellung nicht mehr halten lässt. Das sind die Bedingungen für uns, um hier als Künstler existieren zu können. Es sei denn, jemand hat Ambitionen, ein Matisse zu werden. Soll er doch machen. Unter heutigen Bedingungen ist er dann ein Dekorateur.

Der NO!art sind Mittel wie programmatische Exposes, Reklame, Timing, Wahl des Ausstellungsortes, -themas und -kataloges genauso wichtig wie die ausgestellten Arbeiten selbst. Da gibt es keinen Unterschied gegenüber heutzutage, eine NO!art Manifestation zu präsentieren. Nur ist es heute weitaus komplizierter als in den 60er Jahren. Das, was mit einem Geistesausbruch begann, nämlich dem Bedürfnis, sich selbst durch Taten zu befreien, entwickelte sich später zum Gruppendenken und funktionierte mehr recht als schlecht, leitete jedoch über zu kollektiven Aktionen in der sich gleichzeitig auftürmenden Brandung der Geschichte. Und das geschah mit einer Generation, für die das Denken sekundär, das Gefühl aber primär war. Alles musste allmählich, Kraft der Umstände, erst durch den Kopf gehen, musste also auf eine intellektuelle Ebene gebracht werden. So ging das in New York ab, so war das in Amerika, dem Angelpunkt aller Aktionen. Alles, was man hier unternahm, war doppelt wichtig, d.h. überall wichtig.

Heute haben sich die historischen Wogen geglättet. New York ist nur noch New York. Es gibt keine kollektiven Aktionen mehr. Diese manifestartige Offenbarung hier schrieb einer aus einer anderen Generation. Das sollte man beachten. Diese Offenbarung hier will nicht nur eine schöne Reflektion über turbulente Jahre sein, die alle erlebt haben. Dies hier ist nicht die halsstarrige Aktion eines einzelnen. Man sollte meine einführende Offenbarung auch unter dem Aspekt des "Physical-Exhibition-Space" sehen, den ich im kapitalistischen Wettbewerb erobert habe, und zwar mit Dollars, Magengeschwüren und Gerichtsprozessen. Und immer noch wird der Boris Lurie verfolgt von der Street-art, von seinem Müllatelier in der Avenue B und 6ten Straße, sogar bis in seine heutige Wohnung, bis in die eleganten 60er Straßen. Kaum hat er hier sein Namensschild am Hauseingang oder am Briefkasten angebracht, schon ist es mit Kugelschreiber unkenntlich gemacht und mit Hakenkreuzen bekritzelt

New York, im Juni 1975! Volle Kehrtwendung! Zurück in die Pionierzeiten der Modernen Kunst, zurück zu den elitären, zu den aristokratischen, zu den intellektuellen Kulturzirkeln. Volle Kehrtwendung ist jetzt das einzige Mittel, um vorwärts zu kommen. Shows nur noch in "exklusiven" Kreisen machen. Der Radarstrahl tastet die Szene nach wirklich vornehmen exklusiven Intellektuellen ab. Ob mit oder ohne Geld ist egal. Aber bitte keine Youth-Culture! Sonst ist das Alter egal. "Old Age", hurrah! Nur kleine, aufnahmebereite Gruppen, nur eine Zuhörerschaft, die in kulturellen Krisenzeiten auch dünne Luft vertragen kann. Oder Kehrtwendung zurück in die wirkliche Wüste, dorthin, wo alles begann, zurück nach Beer-Sheba, um den Weg wieder aufzunehmen, den Abraham schon gegangen ist?

Publiziert in: Lurie, Boris; Krim, Seymour: NO!art, Köln 1988

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