MIT BEITRÄGEN VON Louis Aragon, Isser Aronovici, Dore Ashton, Erje Ayden, Gregory Battcock, Herb Brown, Al Brunelle, Iris Clert, Fielding Dawson, Allan D'Arcangelo, De Hirsh Margules, Dov Or-Ner, Erro, John Fisher, Stanley Fisher, Gerard Gassiot-Talabot, Dorothy Gillespie, Esther Morgenstern Gilman, Augustus Goertz, Sam Goodman, Thomas B. Hess, Marcel Janco, Wolfgang Kahlke, Elmer L. Kline, Seymour Krim, Yayoi Kusama, Jean-Jacques Lebel, Boris Lurie, Mario de Micheli, Jack Micheline, Brian O'Doherty, Lil Picard, Harold Rosenberg, Barry N. Schwartz, Emanuel K. & Reta Shaknove Schwartz, Arturo Schwarz, Paul Simon, Gertrude Stein, Michelle Stuart, Jean Toche, Wolf Vostell, Stella Waitzkin, Ray Wisniewski und Tom Wolfe.
VORWORT VON BORIS LURIE
Seit 1969 in Vorbereitung — von den Verlegern bisher abgewiesen — erblickt dieser Band das Licht der Welt im Jahre 1988, einundzwanzig Jahre nach dem verfrühten Tod von Sam Goodman. Dies ist die erste Veröffentlichung einer Essay-Sammlung über die NO!art. Ohne den Hintergrund der NO!art kann man radikale Kunst im Gegensatz zu marktorientierter Kunst unmöglich verstehen. NO!art ist die strategische Kreuzung, auf der sich künstlerische Produktion und gesellschaftlich-kulturelle Aktion begegnen. Dieser Band beschäftigt sich hauptsächlich mit dem Zeitraum von etwa 1960 bis 1964. Einzelne frühere grundlegende Arbeiten über die Frauenbewegung, über den neuen Antisemitismus, über nachrevolutionäre Gewalt und nachrevolutionären Sadomasochismus sind mit aufgenommen. Die Ursprünge der NO!art liegen in der geschichtlichen Erfahrung der Juden (des Zweiten Weltkrieges), wurzelten in New York, der größten Judenkolonie der Welt, und sind Erzeugnisse der Kriegsarmeen, der Konzentrationslager und des Lumpenproletariats. Ihre Zielscheiben sind die scheinheilige Intelligenzia, die kapitalistische Manipulation der Kultur, die Konsumgesellschaft und andere amerikanische Moloche. Das Ziel der NO!art ist der völlig unbehinderte Selbstausdruck durch die Kunst, die in ein gesellschaftliches Involvement einmünden soll. Es waren Künstler der kollektiven Konfrontation schon zur Zeit der großen Friedensdemonstrationen 1961/62, keine leichtbeschwingten Duchampesken, Dadaisten, Neo-Dadaisten noch Pop-Artisten; und schon keinesfalls geschlechtslose Hintergrundmaler des konsumfreudigen Mittelstandes noch der neureichen Liberalen, aber fest im Glauben an das Unmoderne in der Kunst, und zwar groß geschrieben. Die vorliegende Ausgabe ist ein gekürzte Fassung. Wir hoffen, eines Tages die vollständige Fassung mit allen Illustrationen und Biographien der NO!art-Bewegung veröffentlichen zu können.
ABBILDUNGEN mit Arbeiten von Isser Aronovici, Herb Brown, Allan D'Arcangelo, Erro/Ferro, John Fischer, Stanley Fisher, Dorothy Gillespie, Esther Gilman, Sam Goodman, Elmer L. Kline, Yaoi Kusama, Jean-Jacques Lebel, Boris Lurie, Lil Picard, Gertrude Stein, Michelle Stuart, Jean Toche, Wolf Vostell, Stella Waitzkin, Ray Wisniewski.
Rezension
FRIEDEMANN MALSCH:
Zur Veröffentlichung der ersten NO!art-Anthologie
in: Kunstforum, Band 99, März/April 1989, S. 352-53, Köln 1989
Und was ist, wenn die Bombe niemals losgeht? Was dann? Dann werden wieder harte Gespräche in den Planungsbüros geführt ... Was kann EINER machen? Ihr traut euch ja nicht. EINER kann Schluss machen! EINER kann auf den Knopfdrücken! Maulwürfe sind wir mit Trinkwasser in Dosen. Fünf Liter für sechs Mark. In der Tiefe begraben laufen wir im Kreis herum und verbieten es uns, Luft zu atmen...Ist die radioaktive Strahlung noch gefährlich? Wo sind die Messgeräte? Hat da jemand einen Witz gerissen? Hahaha....
Ein Text von Thomas Bernhard vielleicht? Oder ein nachtschernobylscher Erguß von Rainald Goetz? Weder noch: Sam Goodman schrieb das in einem Manifest zur Doom Show 1961.
Heinz Ohff charakterisierte 1973 anlässlich einer Retrospektive der NO!art-Bewegung in Berlin diese als „eine Art Sekte zwischen Pop und Happening, mit einem Schuss Kritischem Realismus, der freilich nicht...zum Dada-Realismus tendierte, sondern eher zur art brut."
Gerade gegen diese Klassifizierungs-Manie des Kunstbetriebes kämpften Goodman, Stanley Fisher und Boris Lurie, die Begründer von NO!art, mit ihren verschiedenen Ausstellungen zunächst in der eigenen March-Gallery. später in der Galerie Gertrude Stein zwischen 1958 und 1964 an. NO!art war eine Fundamental-Opposition, geboren auf dem De'gout angesichts der Hegemonie der unverbindlichen Ästhetik des Abstrakten Expressionismus in einer politischen Situation des Kalten Kriege«, verbunden mit allgemeiner Aufrüstung, H-Bomben-Euphorie und der noch frischen Erinnerung an die Schrecken der Nazi-Verbrechen, der Kz's und der Gaskammern.
In Europa sind die Künstler von NO!art wie auch die Aktivitäten der Gruppe, an denen zeitweise auch bekannte Namen wie Allen Kaprow, Jean-Jacques Lebel, Erro und andere teilnahmen, bisher kaum bekannt geworden. Nachdem Goodman bereits 1967 gestorben war und Fisher ihm 1980 folgte, gelang es nun Boris Lurie, eine Dokumentation der NO!art-Aktivitäten zu veröffentlichen. Wer allerdings eine Hochglanz-Broschüre der Art erwartet, mit der inzwischen die letzten Aufrechten der Avantgarde rehabilitiert werden, der wird enttäuscht. Das in der Edition Hundertmark erschienene Buch zeigt noch in der Aufmachung den subversiven Charakter, der dieser Bewegung anhaftete. Die Lektüre lässt den Leser jedoch schnell die Gründe für die fortdauernde Ignorierung erkennen. Noch heute, aus der Rückschau von 25 Jahren, haben Ausstellungen, Einzelwerke und die in Pamphleten öffentlich gemachten Ideen der Künstler hohen provokativen Wert. Von der "Vulgär-Show" und der "Involvement-Show" (in der unmissverständlich von jedem Besucher ein aktives Eingreifen in die Machtstrukturen von Kunst und Gesellschaft gefordert wurde), beide 1961, zur legendären "Doom Show" (Thema: der atomare Overkill), die auch in Italien zu sehen war, war bereits eine zunehmende Präzision und Schärfe des Angriffs feststellbar. Den Höhepunkt und gleichzeitig auch das Ende der Bewegung markierte dann die von Goodman und Lurie veranstaltete "NO!SculptureShow/Shit Show"(1964), in der Fäkalien nach streng formalen Kriterien präsentiert wurden.
Die fotografische Dokumentation dieser Aktivitäten atmet noch immer, und heute: schon wieder, den Hauch der Tabu Verletzung, der kulturpolitisch radikalen künstlerischen Haltung. Hier findet man vieles, das uns seit Beginn der 80er Jahre als postmoderne Zynik auf den Teller kommt, bereits 20 Jahre früher unmissversländlich formuliert. Dem fotografischen Teil ist eine Textsammlung mit Beiträgen unterschiedlicher Persönlichkeiten angegliedert. Persönliche Stellungnahmen, Briefe, Würdigungen, Kritiken und theoretische Reflektionen, darunter ein wenig bekannter Text von Gregory Battcock von 1971, wechseln sich ab. Die Reihe der Namen ist illuster: Iris Clert, Wolf Vostell, Aragon, Seymour Krim, Marcel Janco, Lil Picard, Dore Ashton, Mario de Micheli und Tom Wolfe gehören zu den Autoren.
Da die Realisierung dieser Dokumentation 20 Jahre in Anspruch nahm, ist auch der Zeitraum für die Entstehung der Texte entsprechend groß. Doch dies zeugt von der kontinuierlichen Aktualität der Ideen, die Lurie nicht müde wird zu verkünden. Zu seinen "NO!posters" (1964), die ähnliche Recycling-Methoden des Bildes aufweisen wie bei Polke/Kohlhöfer, sagt er, sie seien "der spontane Ausdruck einer sich selbst reinigenden Maschine, die sich gegen ihren Missbrauch in der Gesellschaft mit der ihr eigenen Mechanik auflehnt." Ästhetische Indifferenz bei starker moralischer Erschätterung - hier ist ein wichtiges Vorkapitel für die 80er Jahre zu entdecken.
FRIEDEMANN MALSCH ist Generaldirektor der Sammlung des Kunstmuseums Lichtenstein, Vaduz. ►mehr