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HAUS VON ANITA — Roman
Aus dem Englischen übersetzt von Joachim Kalka
Wallstein Verlag, Göttingen 2021
298 S., geb., Schutzumschlag, 12 x 20 cm
ISBN 978-3-8353-3887-6 (2021)
TAGGED: Leseprobe +++ Deutschlandfunk +++ Süddeutsche Zeitung
Dschungel +++ Kommentar

Haus von Anita BuchumschlagZum ersten Mal auf Deutsch: Der Roman von Boris Lurie verbindet die Gewalt der KZs mit der zerstörerischen Energie der Kulturindustrie. Radikal und provokant wie kein Autor zuvor.

Bobby ist in New York regelmäßig zu Gast - oder sollte man besser sagen: gefangen? - im »Haus von Anita« und lässt sich dort zusammen mit drei weiteren Männern von den Gebieterinnen des Hauses zur sexuellen Befriedigung quälen und misshandeln. Was auf der Oberfläche wie ein pornographischer S/M-Roman wirkt, ist auf einer anderen Ebene die provokante Darstellung der Nazigräuel.

Ruth Klüger hat in der detailgenauen Darstellung der Lager die Gefahr einer »Pornographie des Todes« gesehen. Wie ein auf die Spitze getriebener Beweis ihrer provokanten These liest sich dieser Text, an dem Boris Lurie mehr als 40 Jahre arbeitete. Auch er war ein Überlebender der Shoah und er war Mitbegründer der NO!art-Bewegung, die sich vor allem gegen die Pop Art und eine selbstgefällige Konsumgesellschaft wendet. Die industrielle Zerstörung der Körper in den Lagern wird hier bis zur Unerträglichkeit mit ihrer kulturindustriellen Vernutzung durch Konsum, Kommerz und Pornographie verschränkt. Lurie verarbeitet in diesem Buch nicht nur seine Erfahrung der KZs, sondern fragt auch mit schockierender Eindringlichkeit nach der Bedeutung der Kunst nach der Shoah. Eine Lektüre, die erlitten und nicht genossen werden will. Leseprobe

ÜBER DEN ÜBERSETZER: Joachim Kalka, geb. 1948, lebt als Übersetzer und Kritiker in Leipzig. Zu den zahlreichen von ihm übersetzten Autoren zählen Gilbert Sorrentino, Guillelmo Cabrera Infante, Angela Carter, Jean Giraudoux und Jessica Mitford; 1996 wurde er mit dem Johann-Heinrich-Voß-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet und 2014 mit dem Cotta-Übersetzerpreis. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Veröffentlichungen u. a.: Staub (2019); Der Mond (2016); Gaslicht. Sammelbilder aus dem neunzehnten Jahrhundert (2013); Die Katze, der Regen, das Totenreich (2012).

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KOMMENTAR:

Wilhelm Hein kintoppp@gmx.de | Datum: 05.12.2021, 18:09 | An: Dietmar Kirves contact@no-art.info. . . MICH BESCHÄFTIGT SEIT EINIGER ZEIT DIE FRAGE, OB SICH GEORGE GROSZ UND BORIS LURIE IN NEW YORK BEGEGNET SIND. HAT BORIS LURIE BEI IHM ETWA STUDIERT? GIBT ES DARÜBER IRGENDWELCHE DOKUMENTE? ETWAS ZU SPEKULIEREN IST IMMER GANZ SCHÖN, NÜTZT EINEM ABER NICHTS. WÄRE INTERESSANT ZU WISSEN, OB GROSZ IHM PRIVAT SEINE SEXPHANTASIEZEICHNUNGEN, DIE ER JA NIE IN USA AUSGESTELLT HAT, GEZEIGT HAT ODER WIE ER AUF LURIES HÄRTERE BILDER REAGIERT HAT. HERZLICHST WILHELM
HABE NOCHMAL ANITA GELESEN, BEIM ZWEITEN LESEN DRÄNGT SICH IMMER MEHR LURIES SARKASTISCHER HUMOR AUF, WENN ES UM DIE KUNSTWELT GEHT. IN DEN VORDERGRUND, WIE ER HENRY GELDZAHLER UND ANDY WARHOL DURCH DEN KAKAO ZIEHT. DAS IST SCHON WUNDERBAR. UND SEINE SURREALEN ALPTRAUMBILDER LASSEN DEN KLASSISCHEN SURREALISMUS GANZ SCHÖN ALT AUSSEHEN, DIE VIELEN IN DETAILS BESCHRIEBENEN SAD0MASO SZENEN WERDEN DANN SCHON NACH NER WEILE ZIEMLEICH OPERETTENHAFT. WAS ABER IHRE STÄRKE AUSMACHT - DIE NORMALEN KZ PORNOHEFTCHEN DIE, ALS ICH 81/82 IN NEW YORK WAR IN DER CANALSTREET VERRAMSCHT WURDEN, WAREM IHM JA SICHER NICHT UNBEKANNT...........................
JAWOHL AUCH NICHT FREMD.
Wilhelm Hein

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REZENSIONEN:

INGO AREND: Boris Lurie "Haus von Anita"
Sadomasochistische Abhängigkeit als Metapher
in Deutschlandfunk Kultur am 24.03.2021

Haus von Anita Buchumschlag
Missbrauch, Folter, perverse Spiele: Der Roman „Haus von Anita“ geht an Grenzen und darüber hinaus.
(Deutschlandradio / Wallstein)

Der Holocaust-Überlebende Boris Lurie war der große Provokateur der US-Kunstszene in den 1960er-Jahren. In seinem Roman „Haus von Anita“ läuft er mit extremer Leidensästhetik Sturm gegen die westliche Konsumgesellschaft.

„Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“. Theodor Adornos berühmter Satz stieß immer auf Widerspruch, er schwächte ihn später selbst ab. Als Metapher für die Abwehr der künstlerischen Darstellung des Holocaust wirkt das Diktum freilich bis heute nach.

Wenn es einen Künstler gibt, der die legendäre Sentenz widerlegen kann, dann ist es vielleicht Boris Lurie. 1924 in Leningrad geboren, floh seine Familie aus der Sowjetunion nach Lettland. Seine Mutter, Schwester, Großmutter und seine Jugendliebe wurden von den Nazis 1941 in Riga ermordet.

Lurie starb, ohne je ein Bild verkauft zu haben

Zusammen mit seinem Vater überlebte Lurie vier Konzentrationslager. 1946 ließ er sich in New York nieder und wurde Künstler. 2008 starb er im Alter von 83 Jahren, ohne je eines seiner Bilder verkauft zu haben. Eine Stiftung hütet seinen Nachlass.

„Die Grundlagen meiner künstlerischen Erziehung erwarb ich in KZs wie Buchenwald“, charakterisierte Lurie einmal seine Arbeit. Das erklärt vielleicht, warum er Pin-ups mit Bildern von Leichen aus den Todeslagern collagierte.

Den von den Dadaisten oder dem Montagekünstler John Heartfield inspirierten, schrillen Kampf gegen die „kapitalistische Manipulation der Kultur, die Konsumgesellschaft und andere amerikanische Moloche“ machte die von Lurie 1959 mitbegründete Bewegung „NO!art“ zu einer Art Vorläufer des Punk.

„Heiligkeit des Niederkniens vor den Starken“

„Haus von Anita“ ist gleichsam das literarische Pendant von Luries ästhetischer Strategie, Genozid und Pornographie visuell zu verzahnen, um die „Banalität des Bösen“ zu geißeln. Der Roman spielt in einem Apartmenthaus auf der Upper West Side in New York, in dem sich drei Herrinnen drei geschorene Sklaven und einen Kapo halten.

Diesen Dominas, oder den Gästen des Etablissements, müssen die drei zu Diensten sein. Sie werden sexuell missbraucht, gefoltert oder müssen perverse Spiele über sich ergehen lassen. Nie zweifeln sie jedoch an ihrem Daseinszweck: der „Heiligkeit des Niederkniens vor den Starken“.

Luries Buch ist nicht jugendfrei. Obwohl er sich deren Bildwelt bedient, ist der von Blut-, Sperma- und Exkrementen überquellende Roman aber keine Pornographie.

Metapher für das perfide Vernichtungsystem der Nazis

Das Bild sadomasochistischer Abhängigkeit, das Lurie darin konstruiert, ist eine Metapher für das perfide Vernichtungssystem der Nazis, für die Selbstunterwerfung im Gefängnis des Kapitalismus ebenso wie ein Sinnbild des pervertierten Eros der Zeit.

So wie Lurie das „Haus von Anita“ als Mischung aus Bordell und moderner Galerie zeichnet, ist der Roman zugleich eine giftige Persiflage des Kunstsystems. Im Foyer hängt abstrakte Kunst. Bei „Künstlerappellen“ inspiziert Herrin Anita die Geschlechtsteile der Eingeladenen statt ihrer Kunst.

Das 2016 erstmals in den USA publizierte Werk komplettiert nun Luries, zu seinen Lebzeiten heftig angefeindetes Oeuvre. Es bleibt aber aktuell. Mag sein Schöpfer auch den Kampf gegen den Abstrakten Expressionismus und die Pop-Art verloren haben, die damals tonangebenden Protagonisten des American Way of Life.

Strukturell sieht die (Kunst-)Welt heute nicht viel anders aus. Den jedes Tabu sprengenden Sturmlauf Luries gegen die andauernde Obszönität aus Kapitalismus, Gewalt und Sexismus, den „Haus von Anita“ neuerlich demonstriert, sieht man wahrscheinlich nur einem Überlebenden des Holocaust nach.

Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/boris-lurie-haus-von-anita-sadomasochistische-abhaengigkeit.1270.de.html?dram:article_id=494495

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REINHARD J. BREMBECK:
Verstörend: Boris Luries BDSM-Roman "Haus von Anita"
Holocaust und BDSM: Was vom Menschen übrig bleibt
in: Süddeutsche Zeitung, München 28.07.2021

Lurie Foto von Reichelt
Boris Lurie in einem New Yorker Restaurant im Jahre 2002, sechs Jahre vor seinem Tod.
(Foto: imago images/Matthias Reichelt)

Boris Lurie überlebte die Shoah und wurde in New York zum Anti-Künstler. Über seinen verstörenden BDSM-Roman "Haus von Anita".

"Es ist nichts Ungewöhnliches, daß eine dahingeschiedene Person einen israelischen Panzer fährt, da ja jedermann weiß, daß diese nunmehr siegreichen, mit dem Davidsstern bemalten Maschinen zu Lande, zu Wasser und in der Luft schnell und sicher von jenen gelenkt werden, deren Überreste in den ungekennzeichneten Gruben der feindlichen Erde im fernen Norden verschwunden sind." Ja, Boris Luries posthum vor fünf Jahren und jetzt auf Deutsch erschienenes Buch "Haus von Anita" ist sprachlich ungelenk, aber es sind Sätze wie herumsausende Ziegelsteine. Dieser 300-Seiten-Text fasziniert von Anfang bis zum Ende, ein Text, der sich trotz seines wüsten Settings und seiner keine Sextabus respektierenden Sprache mühelos lesen lässt. Es ist eine jüdische Selbstfindungsgeschichte, mit der archaischen Wucht der Tora nicht geschrieben, sondern ins Papier gemeißelt.

Zu Beginn führt Boris Lurie ein mondänes Sado-Etablissement im Manhattan der 1960er -oder 70er-Jahre vor, das des göttlichen Marquis de Sade würdig gewesen wäre. Vier Herrinnen halten sich in Anitas Haus vier Männersklaven, die sie nach festgelegten Regeln foltern, erniedrigen, sexuell ausbeuten. Wie sein großer Vorgänger lässt auch Lurie kein Detail bei diesen Sexorgien aus.

Vier Jahre verbrachte Lurie in Arbeits- und Konzentrationslagern

Boris Lurie lebte bis zu seinem Tod 2008 als Künstler in New York und war Mitbegründer von No!Art. Die Gruppe provozierte mit Kunstverweigerung, gefakten Fäkalien, Holocaust-Thematiken, jew art, Ablehnung des abstrakten Expressionismus, Hass auf die Pop Art. "Anitas Haus" passt bruchlos in diese Ästhetik. Lurie wurde 1924 in Leningrad als Industriellensohn in eine säkulare jüdische Familie geboren. Er verbrachte die Jugend in Riga, war dann vier Jahre lang in verschiedenen Arbeits- und Konzentrationslagern. Aus seiner Familie überlebten nur er und sein Vater, sie gingen zusammen nach New York, finanzierten sich durch Börsenspekulationen.

So ist, wenig verwunderlich, dieses Buch auch eine kaum kaschierte fiktive Autobiografie. Es ist die Suche eines Mannes nach seinen Wurzeln, ist die Auseinandersetzung eines Holocaustüberlebenden mit den Nazimassenmördereien, ist eine Aufarbeitung seiner Schuldgefühle als Überlebender. Und es ist ästhetisch ein Monolith von grandioser Einschlagskraft.

Der Held heißt wie der Autor Bobby, und er versteht erst nach und nach, was alle anderen schon wissen: Dass er ein Jude ist. Immer wieder rekurriert der Text auf den Wald von Rumbula bei Riga, wo 1941 die Nazis 25 000 Juden erschossen haben. Nach und nach bekommt so die schöne heile New Yorker Sado-Hip-Welt Risse. Die toten Juden von Rumbula tauchen auf und nisten sich ein in Anitas Haus, sie sind zudem die unabweisbare Anklage eines Verrats des Protagonisten.

Eine der Herrinnen, "Die Judy", fällt aus der Rolle. Auch sie verdrängt ihr Judentum, wird ihrerseits zum Folteropfer und zudem zum lebendigen Kunstobjekt stilisiert. Woraufhin auf einmal eine jüdische Kunsthändlerin auftaucht, die ganz begierig auf dieses neuartige Artefakt blickt, das alle Gegenwarts-Pop-Art deklassiert, und sich umgehend in den Kreis der Sadodiktatorinnen einfindet. Zynismus und Hellsichtigkeit in Bezug auf das vertrackte Verhältnis von Kunst und Markt kommen in dieser Figurenkonstellation grell krachend auf den Punkt.

Lurie vermischt hemmungs- und gnadenlos Pornografie, Gewaltkapitalismus, Zynismus, KZ-Folter, Kunstmarkt und den american way of life. In diesem seinen mit Faustschlagsätzen formulierten "J'accuse", das macht das Ganze erträglich und eindringlich, fehlt aber alles Moraline, jedes Pathos, jedes Sentiment. Es gibt keine Beschwichtigungen, keine Beschönigungen, keine Friedensangebote. Schnörkellos stürzt der Text von Gemeinheit zu Gemeinheit, von Sado zu Maso, von Niedertracht zu Perfidie.

Aber Lurie will und schafft sehr viel mehr als eine in den übelsten Abgründen des Menschlichen berserkernde Anklageschrift. Er sucht und findet für sich und seinen Helden einen Ausweg. Wie die Mystiker, wie Juan de la Cruz, Hâfez, Teresa von Ávila und ?Attar, begibt sich Boris Lurie auf eine imaginäre Reise, die sinnstiftend Leiden, Tod und Leben miteinander aussöhnt. In den "Vogelgesprächen" erzählt ?Attar, wie sich die Gemeinschaft der Vögel auf die Suche nach dem legendären Supervogel macht. Die Reise ist ein Todesflug, fast kein Vogel überlebt. Und die dreißig Überlebenden müssen zuletzt erkennen, dass sie selbst jener sehnsüchtig gesuchte Simurgh sind, der Name bedeutet wörtlich: 30 Vögel.

Boris Lurie lässt seinen Bobby eine ähnlich fantastische Reise ins Ungewisse antreten, die ihn nach Israel führt, wo er, siehe oben, als untoter Panzerfahrer zu seiner Bestimmung findet. Die Coda ist dann aber ein Brief der New Yorker Kunsthändlerin an die ebenfalls in Israel zu Tode gekommene und von ihr einst als Kunstkultobjekt begehrte Judy: "Ich hatte daran gedacht, Sie im Land unserer Väter aufzustellen. Denken Sie nur, wie schön Die Judy im Skulpturengarten in Jerusalem ausgestellt hätte. Unsere Ahnen haben sich seit unvordenklichen Zeiten in diese Richtung verneigt, also stellen Sie sich vor, Sie wären an den Toren unserer Ewigen Stadt ausgestellt!"

Quelle: https://www.sueddeutsche.de/kultur/boris-lurie-anitas-haus-roman-rezension-shoah-1.5366224

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Danke, Hitler
Der Holocaust als pornographische Collage:
Boris Lurie beschäftigt sich in dem jetzt erstmals auf Deutsch
erschienen Roman »Haus von Anita« auf schockierende Art
mit seinen Erfahrungen im Konzentrationslager.
Von Matthias Reichelt
Dschungel, Vol. 25, 24. Juni 2021, Seitr 8–9

Boris Lurie Photo by Matthias Reichelt
Boris Lurie, Simone Martini Bar, 1st Ave, St. Marks Place, 24. November 2003.
Foto: Matthias Reichelt

Bittere Ironie und der Zynismus der Wirklichkeit kennzeichnen Boris Luries künstlerische Arbeit. Seinen 2019 publizierten Erinnerungen an Riga, die bislang nur auf Englisch vorliegen, ist ein wegweisendes Zitat vorangestellt: »Ich danke dir, Adolf Hitler, mich zu dem gemacht zu haben, der ich bin, und für all die fruchtbaren Stunden, die ich in deiner Gewalt verbrachte, für alle kostbaren Lektionen, die ich aufgrund deiner Weisheit erhielt, für alle tragischen Momente, schwebend zwischen Leben und Tod.«

Lurie wurde 1924 in Leningrad geboren, wuchs jedoch im lettischen Riga auf. Der Vater, Ilja Lurie, ein erfolgreicher Kaufmann, hatte seine Geschäfte In der Sowjetunion nicht weiter betreiben können und war mit der Familie nach Riga gegangen, als Boris ein Jahr alt war. Von Riga aus versorgte er die Rote Armee mit Jeder und anderen Gütern. Boris und seine Schwestern Asya und Jeanna erlebten eine behütete Kindheit in einer säkularen jüdischen Familie.

Boris Lurie engagierte sich in einer linkszionistischen Jugendorganisation und entwickelte graphische Entwürfe für linke Verlage. Als die Wehrmacht im Sommer 1941 Riga besetzte, begann die Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung. Die Familie Luries wurde in das Rigaer Ghetto gezwungen und von dort auf verschiedene Lager verteilt. Knapp vier Jahre verbrachten Boris und sein Vater im Arbeitsghetto und in mehreren Konzentrationslagern, bis zu ihrer Befreiung aus einem Außenlager des KZ Buchenwald in den Polte-Werken in Magdeburg durch US-amerikanische Truppen. Zu den traumatischen Erinnerungen kam der Schmerz über die großen Verluste. Boris' Mutter, seine Großmutter, die Schwester Jeanna sowie seine Jugendliebe Ljuba Treskunova überlebten das Ghetto für Kinder. Frauen und Alte in Riga nicht. Sie gehörten zu den rund 26 000 jüdischen Menschen, die bei der letzten von zwei sogenannten »Großen Aktionen«, am 8. Dezember 1941, in Rumbula, ca. acht Kilometer südlich von Riga, erschossen und in Massengräbern verscharrt wurden. Damit machte die Wehrmacht »Platz« für die aus Deutschland deportierten Juden.

Nach dem Krieg emigrierten Boris Lurie mit seinem Vater nach New York, wo er damit begann, seine Er-fahrungen künstlerisch aufzuarbeiten, anfangs in Form von klassischer Malerei, bald in offeneren Kunstformen, die Malerei, Assemblage, Collage, Skulptur und typographische Elemente umfassten. 1959 gründete er mit befreundeten Künstlern die NO/art-Bewegung, die sich gegen den etablierten Kunstbetrieb wandte. Etwa zu der Zeit begann er auch damit, seine Ansichten zu Politik, Kunst und Museen niederzuschreiben. Bislang sind diese Texte nur in kurzen Auszügen zugänglich. Auch ein Ro man über einen Ghettopolizisten namens Wand ist unveröffentlicht. 2008 starb Lurie in New York.

Für das Verständnis seines jetzt auf Deutsch erschienenen Romans »Haus von Anita« ist das Wissen um das Trauma Luries unabdingbar. Der erstmals 2010 von NO5art Publishing in New York, dem Verlag der Boris Lurie Art Foundation, herausgegebene Roman wurde erneut 2016 ediert, umfasst 68 Kapitel und beschreibt das von der Domina Anita geleitete »moderne kulturerzieherische Sklaveninstitut der Avantgarde«, das in einem großen Apartment am Central Park West, Ecke 65. Straße, residiert. Bei der Darstellung des Instituts ließ Lurie sich von der herrschaftlichen Wohnung seiner Freundin Gertrude Stein inspirieren, einer Galeristin, die der Boris Lurie Art Foundation vorsteht und an jener Straßenecke im berühmten zwölfgeschossigen »Prasada« wohnt. Lurie sprach immer süffisant vom »Italian palazzo«, den die Freundin bewohne, während er, obgleich Multimillionär, in einer engen, vollgestopften Parterrewohnung lebte. Neben Anita leben im Roman die Herrinnen Tana Louise, Beth Simpson und Judy Stone ihre Wünsche an den männlichen Sklaven aus. Die versklavten Männer sind der jüdische Bobby, aus dessen Perspektive erzählt wird, die zwei Deutschen Fritz und Hans sowie der italienische Kapo Aldo, der als Kalfaktor anfangs gewisse Privilegien genießt. Die ersten Seiten des Romans widmen sich der Beschreibung des Interieurs des Instituts, das im »Zen-Stil der Leere« eingerichtet ist. Die »blaugestreiften Uniformpyjamas« und geschorenen Köpfe der Sklaven erinnern an die Entwürdigung der KZ-Häftlinge. Untergebracht sind die Sklaven in Kojen, die durch gläserne Wände getrennt und Tag und Nacht einsehbar sind. Lampen leuchten die Schlafstätte aus, die mit »Marschliedern der radikalen amerikanischen Gewerkschaftsbewegung oder des Spanischen Bürgerkriegs« beschallt werden.

Die alltägliche Routine besteht aus »Melken des Ejakulats« unter Gewaltanwendung, so dass sich Samen und Blut der Sklaven mischen und genüsslich gekostet werden. In rollenden Sarkophagen mit zwei Öffnungen für Mund und Penis stecken die Männer unbeweglich fest und werden malträtiert. Einige S/M-Szenen beschreiben die Entleerung der Körper von Kot und Urin, woran Lurie die Leser in aller olfaktorischer Deutlichkeit teilhaben lässt. Die ständige Verfügbarkeit lässt willfährige Unterwürfigkeit entstehen, so dass bei den Sklaven auch Lust aufkommt. Die Lektüre dieser »Anti-Pornographie« (Stefan Ripplinger) bereitet indes keinen Genuss und ist zum Teil quälend. Die Geschichte ist zu surreal, grotesk und tragisch, als dass sich der Leser darauf einlassen könnte. »Haus von Anita« ist ein Roman, der radikal jede Identifikationsmöglich keil verweigert. Er bietet keinen konzisen Handlungsablauf und ist eher eine Addition von Szenen, die sich im Institut und um es herum ereignen. Methodisch erinnert das Buch an die Collage-Techniken von Luries Bildern, in denen dieser Disparates auf die Leinwand packte, um die Widersprüche und die verstörende Gleichzeitigkeit von Vernichtung und Sexualität, von Terror und Vergnügen zu zeigen.

In seiner Lyrik brachte er einen zentralen Widerspruch seines Lebens zwischen kapitalistischem Handeln und politischer Haltung auf den Punkt. Lurie, der nur ganz zu Anfang seiner Karriere Bilder verkaufte, um sie später zurückzukaufen, verdankt seinen Reichtum ausschließlich seinem väterlichen Erbe und Börsengeschäften. Gleichzeitig sympathisierte er mit sozialistischen und revolutionären Ideen: »Meine Sympathie ist mit der Maus, doch ich füttere die Katze.«

Als Gast taucht im Haus von Anita die Kunsthändlerin Hannah Polanitzer auf, der die Hausherrin ihre kostbaren Kunstschätze zeigt: »ein Knäuel Auschwitzhaar in der Originalschachtel« sowie zermahlene Knochen »aus den Leichengruben« der Konzentrationslager. In zugespitzter Form bringt Lurie seinen Abscheu gegen den Zynismus des Kunstmarktes zum Ausdruck, der in seiner Vermarktungswut vor nichts haltmacht.

Höchst berührend sind die Passagen, in denen Lurie seine Erlebnisse in Riga aufruft. In zwei Kapiteln erscheinen Wiedergänger der in Rumbula Ermordeten, die Bobby in einem Haufen zusammengekauerter Gestalten im Vestibül des Instituts erkennt. Alle sind durch blutige Schusswunden im Schädel gezeichnet und verströmen den »Ostfrontgestank«. Die Toten, insbesondere ein 16jähriges Mädchen, das unschwer erkennbar die ermordete Ljuba Treskunova verkörpert, hallen Gericht über Bobby, »Bobenka«: »ER ist es, der mich vernichtet hat!«

Dass ausgerechnet die Opfer Schuld und Scham empfinden, überlebt zu haben, während die Taler ihre Schuld leugnen, wurde bereits von Primo Levi beschrieben. Der Psychoanalytiker William G. Niederland prägte dafür in den sechziger Jahren den Begriff des Überlebensschuld-Syndroms. Lurie musste an der Bewältigung der von Ihm empfundenen Scham scheitern, denn seine Erinnerung macht die Auflösung der empfundenen »Schuld« zur Aporie. Er träumte jede Nacht von seinen Erlebnissen in den KZ, wie sich Beatrice Le Cornu-Hamilton, die in Paris lebende frühere Ehefrau von Lurie, in dem Dokumentarfilm »Shoah und Pin-Ups« (2006) erinnert.

In »Haus von Anita« gibt Lurie in der Personifizierung als Bobby viel von sich preis. Er erklärt seine Verehrung von Stalin als Bezwinger des Faschismus, im Roman lässt er ihn mit Rotarmisten und Panzern durch Manhattan paradieren und in den Twin Towers residieren.

Ganz am Ende finden Bobby wie auch die von ihm aus den Fängen Anitas befreite Jüdin und einstige Herrin Judy Stone, die zum Spielobjekt degradiert worden war, ihren Weg in die Freiheit. Eine El-Al-Maschine bringt sie in das verheißene Land Israel. Dort bringt sich Herrin Judy Stone um und auch Bobbys Leben endet mit einer postumen Erkenntnis: »Obwohl ich völlig tot bin, bin ich endlich frei«. Im letzten Kapitel schreibt die Kunsthändlerin Hannah Polanitzer, an Judy Stone, nicht ahnend, dass diese tot ist, über das Ende Anitas und berichtet, dass sie selbst die Räume als neue Besitzerin übernommen hat. Manhattan ist einem rätselhaften Brand zum Opfer gefallen und liegt wie Sodom und Gomorrha in Trümmern. Doch das Kunstgeschäft blüht: »Mit ein paar Kartoffeln kaufe ich einen klassischen Picasso. Ein Stapel Pop Art ist für zehn Zigaretten zu haben!«

So schwierig die Lektüre ist, so lohnend ist sie: Der tragisch-groteske Roman enthält viele Spuren Luries, die sich In seinem Bilder ebenfalls wiederfinden und bei der Analyse seines Werks hilfreich sind.

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